Sprache

Ich falle aus der Zeit

Die Mitte meiner fünfziger Jahre ist überschritten. Was mein Schwager als seine Erfahrungen pries, stimmt: Fünfzig zu werden, ist okay. War okay. Die Geburtstage pro Jahr danach scheinen immer schneller wiederzukehren. So zählt man sich hinauf. „Jedes Jahr schmerzt mehr“, sagt der Schwager. Er muss es wissen. Knapp nachdem wir ins nächste Jahr gewechselt haben werden, wird er nun sechzig. Dahin habe ich noch ein bisschen. Dennoch fühle ich mich in diesen Tagen, als wäre ich alt, sehr alt. Und zugleich aus der Zeit gefallen.

Woran mache ich das fest? Im Alltag und in der Kommunikation. Dabei will ich meine Lernfähigkeit nicht geringschätzen. So nahm ich unlängst an, dass die unter Geschäftsbriefen oder geschäftlich geschriebenen E-Mails für mich übliche Grußformel, eröffnet mit „mit“ (mit besten Grüßen, mit freundlichen Grüßen, mit herzlichen Grüßen) als überaltert gilt. Die ÖNORM habe sich schon länger davon verabschiedet. Ich nicht. Die Zueignung durch die Präposition entfällt, ein wenig unbestimmt und trocken bleiben also „beste Grüße“, „freundliche Grüße“, „herzliche Grüße“ übrig. Nun gut, soll sein. Ich lernte. Und veränderte mein Grußformel-Schreiben.

Mit anderen Veränderungen im Bereich Sprache erlebe ich so meine tektonischen Verschiebungen zwischen Werten, die mir wichtig sind, anderen aber nicht. So führte ich in meiner Rolle als Schulleiter vor wenigen Wochen ein Elterngespräch am Telefon, eines von vielen, das ist Teil meiner täglichen Arbeit. Doch dieses eine Gespräch verlief anders. Im Fokus auf die Sache während seines Verlaufs reflektierte und realisierte ich erst danach, dass die Mutter mich konsequent geduzt hatte und – nein, wir kennen einander nicht, sind uns darum nicht vertraut, schon gar nicht im Miteinander-Sprechen. Wir sind auch nicht im ländlichen Raum, wo diese Gesprächsusance im Pflichtschulbereich schon noch greift. Weil dort Lehrerinnen und Lehrer in Rollendiffusion leben: Ihre Schülerinnen und Schüler und deren Eltern sind zumeist auch unmittelbare Nachbarinnen und Nachbarn. Aber in einer höheren Schule mit überregionalem Einzugsgebiet? Und in der Formalität des Gesprächs zwischen Schulleitung und Erziehungsberechtigter bzw. umgekehrt?

Ich führe als Schulleiter auch in Sachen Hausverwaltung und Instandhaltung Gespräche und Telefonate mit Handwerkern. Deren Tun hat goldenen Boden, erst recht in unserer Gegenwart. Dass aber die Schilderung eines Anliegens meinerseits nur bis zum fünften Wort eines damit noch nicht beendeten Satzes kommt und auf der anderen Seite der zeitlich getriebene Meister mit einer Antwort dreinfährt, die den Sachverhalt der Frage noch nicht kennt (und darum nicht passen kann), spiegelt ein Übel unserer Zeit: Geschwindigkeit, Hektik, „speed kills“ hieß es schon früher. Darf man noch ausreden? Die einseitig unterbrechende Gesprächsführung strengt enorm an. Nach drei Versuchen sendet man den Appell, man möge bitte ausreden dürfen. Dieser Satz hat nur fünf Wörter und führte im konkreten Anlassfall zur Antwort, das lasse sich der Handwerker nicht sagen, selbst seine Frau ersuche ihn darum. Auch ihr leiste er nicht Folge, warum solle er das nun bei mir tun.

Ich wünsche mir respektvoll höfliche Kommunikation in der Sache und weiß mich mit diesem Ansinnen auf einer Nostalgiewelle surfend. Irgendetwas muss dieses großteils in Ver- und Abkürzungen erfolgende Schreibsprachkommunizieren weit weg von sprachlicher Norm, Chatten genannt, mit unserem Vermögen gemacht haben, uns von Mensch zu Mensch gepflegt zu unterhalten. In Höflichkeitsform, ausreden lassen. Ja, ich habe diese Bedürfnisse, sie sind altmodisch, ich weiß, aus einer anderen Zeit, wie ich selbst.

Foto: Pexels/Free Photo Library

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