Politik

Nach russischem Drehbuch

Ich muss heute eine phänomenologische Lesart ausprobieren. Dafür löse ich den seit Februar in Europa tobenden Krieg aus dem Kontext von Politik, militärischer Strategie, Propaganda und darum natürlich auch aus dem seltsamen Narrativ, das Wladimir Putin sich und seinem Land erzählt („militärische Sonderoperation“ zur Denazifizierung der Ukraine).

Mich interessiert eine andere Erzählung, die mich als leidenschaftlichen Thriller-Rezipienten, in Lektüre wie in Filmen, fasziniert. Denn als Mitte August die Tochter des als Putins Gehirn benannten Ideologen Aleksandr Dugin durch eine Autobombe ums Leben kam, angebracht an einem Fahrzeug, das ihr Vater hätte nehmen soll, der sich kurzfristig aber für ein anderes Auto entschieden hatte, sprang für mich die fiktive Welt der russischen Bösewichte aus den Kinofilmen in die Realität um und zugleich zurück. Dugins Antlitz! Kein Maskenbildner der Filmproduktionswelt wollte es im Sinn von Stereotypen in Heldengeschichten anders gestalten wollen. Der Mann sieht doch tatsächlich aus wie in einem Film. Das Attentat erscheint, als stamme es aus der fiktiven Welt. Wurde es geschrieben? Es fand aber real (umgesetzt?) statt.

Russland erzählt der Welt und vorderhand natürlich Europa und der Europäischen Union eine Geschichte, bestimmt sie ihr oder drängt sie ihr auf. Das nimmt im Februar seinen Anfang, als noch Olympische Spiele in Peking stattfinden. Die Spiele sind Zeiten des Friedens, Putin besucht als einer von wenigen Staatenlenker Xi Jinping als Gastgeber und hütet sich, diesem (Freund? Feind?) das Sportfest zu durchkreuzen (die Paralympics waren Putin danach schon herzlich egal!). Vier Tage nach dem Verlöschen des olympischen Feuers in Peking fällt Russland, schon Wochen und Tage zuvor um die Ukraine aufmarschiert, ins Land ein.

All dies passiert niemals einfach so. Diese Erzählungen sind gesteuert. Natürlich spielt Regisseur Zufall ihnen zu. Ende August stirbt Gorbatschow, hoch betagt und nach schwerer Krankheit. Der Abgang des Architekten von Glasnost von dieser Welt: Das erscheint wie ein Menetekel in der Gesamtdramaturgie jetzt geschriebener Weltgeschichte. Putin lässt die Teilnahme am Begräbnis aus, wegen einer Dienstreise. Heißt es. Wer trauert schon gern öffentlich um jemanden, der der eigenen Meinung nach an der größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts, der Zerschlagung der Sowjetunion, Schuld trägt?

Eine andere filmreife Erzählung ist die über Gazprom und den Mangel an oder die Mangelhaftigkeit von Turbinen. Immerhin steht eine gewartete einsatzbereit weiterhin auf deutschem Boden, sie wird vom Unternehmen nicht angenommen. Die einsame letzte, die nun vor neun Tagen wegen eines Öllecks abgeschaltet worden ist, weswegen laut westlicher Experten kein Betriebsstillstand notwendig ist, verhindert nun die Gasversorgung für Deutschland. Der Mann im Kreml und sein engster Stab, wir erinnern uns an das duckmausernde Zusammentreten des Sicherheitsrats vor Kriegsbeginn (seltsames Kino war das!), müssen sich hinter verschlossenen Türen doch die Schenkel vor Lachen klopfen.

Sie sagen mit ihren Erzählungen der Welt an, was Sache ist. Und diese Welt hat dieser Geschichte seit mehr als einem halben Jahr aber so gar nichts entgegenzusetzen. Außer Sanktionen. Wir funktionieren alle sehr brav nach russischem Drehbuch. Es ist wie auf einem Mühle-Brettspiel, Mühle auf, Mühle zu, ob in Sachen Gas oder des Atomkraftwerks in Saporischschja oder des Exports ukrainischen Getreides in den Nahen Osten und nach Afrika, der Flüchtlingsströme, in den Reaktionen der Börsenwelt, der realen Wirtschaft, der Preise, der Inflationsentwicklung.

Wenn es Putin wirklich darum geht, kulturhegemonial russischen Lebensstil durchzusetzen, wohl im Kampf mit China um diese Vormacht gegen ein Leben westlicher Prägung, dann hat er mit dem Überfall auf die Ukraine seinen Punkt gesetzt, Ausgleich. China war ja nach dem Fledermaus-Unfall auf dem Lebendtiermarkt in Wuhan mit dem global gewordenen, eigentlich asiatischen Stil von Zusammenleben in der Pandemie (Isolation, Maske-Tragen) mit 1:0 in Führung gegangen.

Nun treibt uns der Kremlherrscher den europäischen Wohlstand aus, wie auch der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev in einem lesenswerten Interview im STANDARD darlegt. Erneut nehmen wir Abschied von einer Normalität, zu der zurückzukehren zwar proklamierte Sehnsucht sein mag. Es wird uns nur nicht gelingen. Russland führt Regie. Immer dann, wenn Handlungsakzente dagegen vorgebracht werden, hören die Europäischen-Union-Steuerleute die Drohungen aus Moskau und unterwerfen sich, zuletzt etwa in Sachen eines Gaspreisdeckels für die kostbare, immens teuer gemachte Energieware aus Russland. Moskau antwortet auf die Ansage mit unbestimmten Vergeltungsmaßnahmen. Die Europäische Union gibt klein bei. Putin lacht sich eins. Und zieht den globalen Zügel wieder etwas fester an sich heran. Dass das so einfach geht!

Es wird ein spannender Herbst und erst recht Winter voll russischer Kälte. Ich sehe uns in Europa in unseren Datschas abends an mit Holz befeuerten Öfen sitzen. Szenen, die dereinst von irgendwelchen neuen Tschechows literarisch verarbeitet werden können. In Mäntel und Decken eingehüllt philosophieren wir im Schein von Kerzenlicht über unsere Existenzen. Ich gehe jetzt dafür Wodka einkaufen.

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