Medien

Russische Kälte

Kurz nach dem Jahreswechsel wurde der Schwiegervater eifrig. Im Heizungskeller fand er den Ort seiner Vermessungsarbeiten. Styroporplatten sollten zwischen Heizungsrohren und den um die sieben Grad kühlen Kellerwänden Abschirmung bieten. Wegen der russischen Kälte, sagte er. Wir sahen sie meteorologisch nicht wirklich kommen. Nicht im Jänner, nicht im Februar. Bis zum 24.. Da kam sie dann. Anders.

In einer spannenden Dokumentation über die Abnabelung ehemaliger Sowjetrepubliken vom russischen Mutterland nach dem Ende der Sowjetunion 1991 auf ORFIII vor acht Tagen fiel gegen Ende der entscheidende, alles erklärende Satz: Die russische Seite will „das Alte nutzen, um die Macht des Neuen auszubauen.“ Das legt man dann als Schablone auf das Narrativ von Wladimir Putin zur „Sicherheitsmission“, die er in der Ukraine führt, immer schon russisches Gebiet, es gehört „befreit“, blablabla, und man wird für den mächtigen Mann, der den Zerfall der Sowjetunion als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts versteht und darum nicht verwunden hat, fast Verständnis gewinnen müssen. Wäre da nicht die Brutalität dieses Kriegs, der auch gegen Zivilisten gerichtet ist, also klar mit Kriegsverbrechen einhergeht. Und würden das nicht jede Menge Unstimmigkeiten begleiten, allen voran eine nachgerade als Panik einzustufende Vorgehensweise, das eigene russische Volk nicht nur in der Meinungsfreiheit zu beschneiden, sondern ihnen auch Bilder und Informationen vorzuenthalten, auch von Medien, die den journalistischen Geboten ausgewogener Berichterstattung folgen. Diese russische Kälte kommt in Form von Smartphone-Videos zu uns. Wir sehen alte Mütterchen, die sich nicht scheuen, ihrer Meinung gegen den Bruderkrieg auf öffentlichen Plätzen Luft zu machen, auch wenn sie dann von der Polizei abgeführt werden und niemand weiß, was mit ihnen geschieht. Dazu kommt der immer stärker werdende Druck der wirtschaftlichen Sanktionen in das große Land.

In diese russische Kälte, die wir allesamt auf der ganzen Welt spüren, mischen sich kleine verschmitzte, herzenswarme Aktionen, in denen die Überlegenheit des kreativen Menschen siegt, seine Begabung, sich der totalitären Steuerung zu entziehen.

Zu meinen zwei liebsten Beispielen zählt einerseits der Protest in der litauischen Hauptstadt Vilnius, wo die Straße, die zur russischen Botschaft führt, in „Straße der ukrainischen Helden“ umbenannt wird. Angekündigt wurde, dass Post nur noch dann an die Botschaft zugestellt wird, wenn sie richtig adressiert sei. Außerdem lädt man die russische Botschaft ein, die Visitenkarten ihrer Angehörigen neu zu drucken.

Beispiel Nummer zwei kommt aus der internationalen Biathlon-Familie: Der deutsche Biathlet Erik Lesser freut sich seit Jänner über eine Vielzahl russischer Follower auf seinem Instagram-Kanal, nachdem er dem russischen Kollegen Eduard Latypow, den es beim Weltcup in Oberhof (Lessers Heimat) mit Corona und Quarantäne erwischt hat, ein Fahrrad auf Rolle fürs Indoor-Training zur Verfügung gestellt hatte. Nun überließ Lesser seinen Account der ukrainischen Biathletin Anastasija Merkuschina, sodass sie über den Krieg berichten kann.

Beides ändert nicht die brisante und explosive Situation, die im Überfall auf die Ukraine in Europa geschaffen worden ist. Wir alle brauchen aber kreative Wärmepunkte, couragiert, klein und fein. Mit ihnen trotzen wir der russischen Kälte.

3 replies »

  1. Mir erscheint es weniger als russische Kälte, was hier in Europe (und wohlgemerkt in aller Welt) gerade passiert, sondern eher als die Kälte einer neuen Eiszeit, die heraufzieht. Einer der kreativen Wärmepunkte für viele ist wahrscheinlich das Schreiben, auch wenn sie sich manchmal die Finger dabei verfrieren. Danke für den Beitrag!

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