Gesundheit

Neue Normalität (5): Infodemie und Sommerloch

Die Frage, die man sich angesichts des zunehmend grotesk werdenden öffentlichen Auftritts der World Health Organization (WHO) stellen muss, lautet: Was reitet diese Organisation durch das Pandemiegeschehen? Ich mache es an Beispielen fest. Der moralisch gehobene Zeigefinger verschiedener Spitzenfunktionäre unterstreicht gestisch die Informationsflut zur Epidemie. Die WHO will aber der „Infodemie“ Einhalt gebieten, womit sie vor allem meint, was alles in sozialen Medien kursiert. Verschwörungstheorien hin oder her, handelt es sich dabei wohl doch um unsere Meinungsfreiheit. Die beflügelte Phantasie der Menschheit, so auch bekannt aus der Spanischen Grippe (1918/1919), hat nämlich das Potenzial, den Weltbürgerinnen und Weltbürgern Kraft fürs Durchstehen zu spenden, auch wenn sie sich Geschichten erzählen, die weit ab vom Faktischen aus jenem Stoff gewoben sind, den wir zu Recht als Hirngespinst bezeichnen.

Die WHO will das also nicht und sie beruft deswegen eine eifrige Forschungsgruppe ein, die zusammengesetzt aus verschiedensten Disziplinen, fachlich einschlägig natürlich Virologie, Epidemiologie, Medizin, umringt von benachbarten Wissenschaften wie Recht, Sozialwissenschaften, Mathematik, Informatik und Kommunikationsforschung, Mechanismen der Kontrolle entwickeln sollen. Infodemiologie nennt die WHO diese neu zu begründende Disziplin – blöd nur, dass diese bereits seit 2002 durch Gunther Eysenbach definiert ist. Damit wäre die WHO mittendrin in dem, was sie zu bekämpfen beabsichtigt: Falschinformationen. WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus täte gut daran, den Grundsatz, dass irritierende Fakten den Gesundheitszustand der Weltbevölkerung durch Stress und Sorgen beeinflussen, in der eigenen Kommunikationspolitik vorbildlich zu praktizieren. Denn nun einmal ehrlich: Erkenntnisse aus der WHO wie Tagesrekordmeldungen von Neuinfektionen oder Mahnungen an Staaten, nicht zu oft die Strategie in der Bewältigung der Pandemie zu wechseln, oder mein liebstes Beispiel aus der vergangenen Woche, als am Montag von der WHO über die Agenturen dieser Welt tickerte, dass der Herbst mit seinen kühleren Temperaturen und den vermehrten Aufenthalten von uns Menschen in Innenräumen den Infektionen kräftig Vorschub leisten werde (mit einem „na no na ned!“ gibt man in Österreich solchen Binsenweisheiten einen missmutig hingeraunten Kommentar!), sind im Sinn der Infodemie nichts außer entbehrlich. Gestern Samstag setzte die WHO noch eines drauf: diese Pandemie werde von „sehr langer Dauer“ sein und sie mahnte uns, dem „sozio-ökonomischen Druck“ nicht nachzugeben und darum Ermüdungserscheinungen in den Maßnahmen der Bekämpfung des Virus zu zeigen. Bravo, WHO, beides hätten wir ohne dich niemals erkennen können!

Aussagen wie diese bringen also niemanden weiter. Dafür bleibt uns die WHO Antworten auf entscheidende Fragen schuldig, etwa die, warum die Weltgesundheitsorganisation am Beginn des Jahres 2020 in Sachen Warnung so zögerlich agierte, möglicherweise zu sehr in der Pflicht gegenüber China, das als Königsmacher von Herrn Ghebreyesus in seiner WHO-Aufgabe gilt. Auch der Bericht einer WHO-Untersuchungskommission zum Ursprung der Pandemie (Lebendtiermarkt in Wuhan) steht aus, blieb Ankündigung, als solche leer und die Menschheit verunsichernd, somit nichts weiter als ein Brandbeschleuniger der Infodemie, die die WHO nun löschen will. (Was sie zur Eindämmung der Pandemie selbst außer artifiziell kluger Statements nach benannten Mustern leistet, konnte ich für mich persönlich bis dato noch nicht wirklich erschließen.)

Natürlich lebt die Infodemie zum Coronavirus auch in Zeiten einer an sich mageren Nachrichtenlage, jenem medialen Sommerloch, das kraft eingeschränkten gesellschaftlichen Lebens in den Sommermonaten Juli und August 2020 besonders klafft, ein Loch, in dem normalerweise, wenn es ganz traditionell zugeht, Nessie aus dem – gleiches Wort, andere Bedeutung – Loch sein Reptilienhaupt erhebt oder ein Hai in der Adria auftaucht (er hatte in der österreichischen U-Bahn-Zeitung heute heuer bereits seinen alljährlichen Medienauftritt). So ringen sich Journalisten an vom Wetter her durchwachsenen Wochenenden Schlagzeilen ab wie „St. Wolfgang: Warten auf weitere Testergebnisse“. Das betrifft einen jüngsten Infektionscluster in einem oberösterreichischen Tourismusort, der als Operettenschauplatz („Im weißen Rössl“) sonst von sich behauptet, dass man im Salzkammergut gut lustig sein könne. Nach Partytreiben Jugendlicher ist aber allen der Spaß und den Touristikern die eben gestartete Sommersaison vergangen. Der Informationsgehalt der Headline wiegt ungefähr genau so viel, wie wenn man schreiben würde „Wien Hauptbahnhof: Warten auf Ankunft eines Zugs“. Infodemie eben.

Bevor nun dieser post selbst in den Verdacht gerät, infodemisch einen sommerlochanfälligen Sonntagabend zu füllen, gebe ich zu guter Letzt einen Sachbuch-Lesetipp. Man wünschte sich, die zur Zeit in staatstragender Verantwortung Handelnden würden sich die Lektüre gönnen. Die britische Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney sagt mit dem Buchtitel, worum es geht: „1918 – Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte“. Was für ein Geschenk an Erkenntnissen, darunter – leider – auch diese, dass wir in etwas mehr als hundert Jahren nichts dazu gelernt haben!

Zuletzt erschien Teil 4 von “Neue Normalität“ mit dem Titel „Die Genialität des Virus“.

Foto: Pexels/Free Photo Library

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