Die Chöre der Experten erklingen täglich vielstimmig. Ich will mich nicht in diese einbringen. Ich bin weder Virologe, Mikrobiologe, Infektologe noch Mathematiker, Physiker, Informatiker mit hohen Wissenschaftspreiswürden. Ich bin Lehrer, als solcher leite ich zurzeit provisorisch eine berufsbildende höhere Schule in Linz (Oberösterreich). Ich denke nach und reflektiere Prozesse, das gehört zum pädagogischen Beruf dazu. Ich denke beispielsweise darüber nach, wann und wie es passiert sein muss, dass das Infektionsgeschehen exponentiell zu steigen begonnen hat, wann und wie es unkontrollierbar geworden ist. Wann ging es über diese Kippe von Nachvollziehbarkeit der Infektionsketten zum Verlust der Eingrenzbarkeit der Virusverbreitung?
Wir plagten uns im Schulbetrieb lange Zeit mit dem Variantenreichtum der Entscheidungen der Gesundheitsbehörden. Je nach Bezirk konnte sich dies zwischen sofort ausgestellten Bescheiden von Quarantänen, gern auch für nicht-infizierte Familienangehörige von Corona-Positiven oder Erkrankten am Ende von Tag zehn nochmals um weitere zehn Tage verlängert, oder unbekümmertem Beraten, ob denn überhaupt eine Testung notwendig sei, bewegen. Dann kam für das Schulsystem das Agreement zwischen Gesundheits- und Bildungswesen, dass nicht mehr die Gesundheitsbehörde nach Wohnsitz der Betroffenen, sondern nach Schulstandort entscheidet. Meiner Meinung nach definiert dies den Knackpunkt, der zur Überlastung (oder auch Überforderung) der Gesundheitsbehörden geführt hat. Die Dauer vom Auftreten von Symptomen, der Rückrechnung auf ein Infektionsdatum, Testungen, Ergebnisse, die Bearbeitung durch die natürlich stark frequentierte Behörde erstreckte sich und öffnete dadurch dem starken Verbreitungswillen des Virus leider Tür und Tor.
Parallel dazu beobachtete man als Österreicher, was in den Nachbarstaaten umging, wie diese reagierten, und wie ein Nachbar nach dem anderen alles Leben in den Stillstand schicken musste. In Österreich wurde zu diesem Zeitpunkt mit einem Lockdown gedroht. Dies geschah in einer seltsam überkommenen Form von Pädagogik und im schlechten Erkennen, dass Drohungen Menschen, die nach Schlupflöchern suchen, erst so richtig animieren, ihren unabdingbaren Leidenschaften weiterhin nachzugehen.
Ging es um Tourismuswirtschaft in den Herbstferien? Sicher auch.
Was man allerdings in Österreich seit 3. November einen Lockdown nennt, dann und wann mit dem Zusatz „light“ versehen, verdient vielleicht die Bezeichnung: Die Wirkung musste ausbleiben, weil Maßnahmen wie das Stilllegen von Gastronomie, Hotellerie, Kulturbetrieb und Sportstätten eine Ausbreitungsbremse zu ziehen versuchten, wo dank solider, auch mit viel Geld umgesetzter Präventionskonzepte die Virusausbreitung bereits effektiv eingedämmt worden ist.
Die Meldung vom 10. November 2020, eine Woche nach dem Verlegen des Unterrichts der Oberstufenformen ins Distance-Learning, dieses zeige keinen Effekt, überrascht Kenner nicht wirklich. Die Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit beziffert das Infektionsgeschehen in Schulen bis maximal sechs Prozent vom Ganzen, je nach Schulstufe gibt es Unterschiede. Die vorverlegte Sperrstunde für den Handel um eine Stunde gehört ebenso zum leider nicht funktionierenden Placebo-Effekt des „Lockdownerl“, das Österreich zurzeit fährt.
Ja, es liegt in der Mentalität unseres Landes und seiner Kultur, die Verkleinerungsform zu verwenden und zu leben, nach dem Möglichen zu suchen, ausgedrückt allzu gern in der Verwendung des Konjunktivs. „Wir könnten …“. Warum uns nun in dieser Situation die Regierung mit einer alternativlosen Entscheidung hinhält, ist seit Tagen nicht mehr verständlich. Wir müssen. Und dabei vor allem hoffen, dass eines der besten Gesundheitssysteme der Welt dem langen Zögern wegen nicht in die Knie geht, dass Menschen wegen dieser Herumdruckserei der Entscheidungsträger nicht sterben. Lockdown – jetzt aber richtig und überall dort, wo es wirklich notwendig ist!
Foto: Pexels/Free Photo Library
Zuletzt erschien in der Reihe „Neue Normalität“ Teil 5: Infodemie und Sommerloch.
Kategorien:Bildung, Gesundheit, Soziales Handeln
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