Bildung

Neue Normalität (4): Die Genialität des Virus

Das Coronavirus führt uns vor. Es zeigt uns als Indikator unser Scheitern. Es zeigt uns, dass wir auf den immer gleichen ausgetretenen Pfaden unterwegs sind. Es zeigt uns Weggabelungen, an denen wir immer dieselbe Abzweigung nehmen. Wir wundern uns nicht einmal, wenn wir zu guter Letzt immer wieder am Anfang dieses Wegs ankommen. Es zeigt uns Versäumnisse, die wir kaum aufholen können. Es zeigt uns unsere großen Fehler.

In meinem Heimatbundesland Oberösterreich lässt sich dies anhand der vergangenen vierzehn Tagen studieren. Dazu blenden wir heute die gesundheitlichen Folgewirkungen des Virus komplett aus und schauen uns einfach einmal die Genialität des Virus im gesellschaftlichen Feld an. Wenn man darum auch immer noch nicht von einer zweiten Welle spricht, sondern von einer weiteren Spitze einer ersten (das ist nicht von mir, sondern offizielle Diktion der WHO), so ist die Konstanz scheinbar bewährter, alter Handlungsmuster der Garant dafür, dass weitere Wellen oder Wellchen oder von mir aus auch Spitzen und Zacken ein und derselben (ersten) Welle folgen müssen und werden. Das geschieht solange, bis irgendjemand den Mut fasst, wirklich anders zu agieren. Für die Pandemie und ihr Ende liegt hier zur Zeit alle Hoffnung ausschließlich auf Medikament oder Impfstoff. Wenn sich die gesundheitlichen Auswirkungen stoppen lassen, wird es mit der Chance zu einem gesellschaftlichen Wandel vorbei sein. Mit oder nach Tablette und/oder Injektion fällt unser soziales Handeln zurück in jenen Turbo-Trott, wie wir diesen bis Anfang März 2020 gekannt haben, Systemblindheiten und -fehler inklusive. Drei davon stelle ich nun vor.

In Linz (Oberösterreich) wurde vor zwei Wochen ein Cluster bekannt, der unglücklicherweise den Namen der Pfingstkirche trägt, die mit dem Gottesdienst einer rumänischen Glaubensgemeinschaft nicht mehr zu tun hat, als dieser ihre Räumlichkeiten dafür überlassen zu haben. Berichten zufolge wurde während der Glaubenspraxis von zahlreichen Menschen viel gesungen, auch Umarmungen waren Teil der Liturgie. Ein hoch infektiöser Gläubiger nahm teil, die Infektionszahlen stiegen in dieser sozialen Gruppe enorm. Es handelt sich bei ihr um eine, die in großfamiliären Strukturen lebt, höchstwahrscheinlich auf sehr engem Wohnraum. Der Krisenstab zeigte sich in der medialen Spiegelung seines Handelns alsbald an zwei Grenzen, die eine liegt im Sprachvermögen zwischen Behörde und der betroffenen Personengruppe. Dolmetscher wollen erst beigezogen werden, weil dies notwendig ist, zumal auch die Kooperationsbereitschaft der Gruppe (die andere Grenze) mit den Behörden äußerst bescheiden ausgeprägt sein soll. Diese Verkettung von unglücklichen Umständen zeigt schlussendlich an, dass hier Integrationspolitik versagt hat, dass eine Parallelgesellschaft entstehen konnte, der im gegebenen Krisenfall einer Pandemie kaum beizukommen ist. Dass dies sichtbar wird, begründe ich mit der sozialen Genialität des Virus.

In unmittelbarer Folge wurde als erste breit wirksame Maßnahme in fünf Bezirken des Bundeslandes der Betrieb von Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen für acht Tage auf Null gefahren, minimale Betreuungsaktivitäten für Kinder, deren Eltern sich nicht schon wieder von ihrer Erwerbsarbeit frei machen können, ausgenommen. Dieser undifferenziert vorgenommene „lock down“, flächendeckend statt lokal nach Infektionslagen (auch der Bildungsminister zeigte sich diesbezüglich not amused), wurde ohne Aufklärung zu seinem Sinn angeordnet, er blieb gänzlich unbegründet gegenüber der betroffenen Gruppe, man spricht von 110.000 Kindern und Jugendlichen, die diese Maßnahme wiederum kurzfristig aus ihren Alltagsstrukturen gekippt hat. Ich bin ganz bei jener Argumentationslinie, die hier mahnt, dass es leicht ist, mit dem Abschalten des Bildungssystems ein Menetekel zu errichten. Es liegt in der sozialen Genialität des Coronavirus, die wahre Wertigkeit von institutioneller Bildung in unserer Gesellschaft aufzuzeigen. Sie wird vom Kindergarten bis zur Hochschule als allererstes System stillgelegt. Und das, obwohl jüngst veröffentlichte Studien nachweisen, dass im Bildungssystem geringste Infektionslagen gegeben sind.

Die dritte große Beweisführung, die das Virus als Indikator ans Tageslicht bringt, ist die immense Mobilität, die Mitbürgerinnen und Mitbürger mit familiären Wurzeln beispielsweise in den Westbalkanländern leben, eine enorme Pendlerbewegung, die individuell mit Kraftfahrzeugen bewältigt wird, über Staatsgrenzen hinweg, auf dem Weg nach Hause leider hinein in Gebiete mit gravierend steigenden Infektionszahlen und darum auch in der Rückkehr mit dementsprechendem Import des Virus nicht nur nach Österreich, sondern auch in die Schweiz und nach Deutschland. Es ist den Gastländern, die sich seit fünfzig Jahren so auf die Arbeitskraft von Menschen aus den benannten Regionen (als Beispiel, es ließen sich auch andere anführen) stützen, nicht gelungen, diesen eine stabile zweite Heimat zu geben, in der sie im Vertrauen auch jenen Verzicht erkennen und leben wollen, der im Sommer 2020 notwendig ist. Das Virus spielt mit der Sehnsucht nach dem Besuch der lieben Verwandten genauso wie mit der nahezu manischen Fixierung einiger Einheimischer, ihren alljährlichen Urlaubsgewohnheiten, Flug ans Ziel, wo man schon seit Jahren die Seele baumeln lässt, weil das Leben sonst nicht das Leben ist, welches man unbedingt haben möchte, trotz Pandemie unbeirrt zu frönen.

Es sind diese Gewohnheiten, von denen ebenso Abstand genommen werden müsste, wie wir diesen zwischen uns halten sollten.

Noch während dieses Sommers und erst recht nach ihm werden wir uns mit den Konsequenzen aus beidem beschäftigen müssen. Nicht nur das ausbleibende Umdenken, der Verbleib oder die Rückkehr in Handlungsroutinen, als wäre das Coronavirus niemals unter uns gekommen oder nach drei Monaten wegzureden gewesen, all das werden wir büßen.

Ich habe mit einer lieben Kollegin eine lose Wette laufen, wie viele Wellen (oder für die WHO: Spitzen und Zacken der Welle) es brauchen wird, bis eine kritische Masse so weit ist, Veränderung zu denken und umzusetzen. Nur so viel: wir zählen um einiges weiter als bis zu zwei.

 

„Neue Normalität“ erschien bisher in diesen Teilen:

Teil 1: Der Look der siebziger Jahre

Teil 2: Ja, als innovative Zukunft!

Teil 3: Alles ganz locker

Foto: Pexels/Free Photo Library

2 replies »

  1. Um es pointiert darzustellen: entweder gibt es harten Lockdown mit allen möglichen Kontrollen wie dzt in Melbourne ( Verlassen der Wohnung nur für Einkäufe, um Verwandte zu besuchen und Sport zu betreiben, keine Veranstaltungen, Lokale werden wieder geschlossen, die Stadtgrenzen dürfen nicht überschritten werden- hohe Strafen bei Übertretungen)
    Oder es gelingt uns die Integration der Parallelgesellschaften. Dies erfordert aber ein Umdenken in nahezu allen Gesellschaftsbereichen und im politischen Handeln.
    Ich finde es tragisch, dass wir 57 Jahre nach der Gründung der EU ( damals EWG) und all der damit einhergehenden Träume von der Grenzöffnung, von freiem Personen und Warenverkehr nun wieder eine Kehrtwendung zu Nationalismen vollziehen ( Ich ergänze : „müssen“ und versehe dieses bewusst mit Fragezeichen) . Rechte und linke Randgruppen zementieren sich in ihren kontroversiellen Standpunkten, mittlerweile oft von Gewaltbereitschaft begleitet, ein und drängen die im Hedonismus verfangene Gesellschaft, die ihr Heil immer noch in Maximierung der Bedürfnisbefriedigung durch Konsum und steigende Börsenkurse sieht, in einen Angstzustand, der dazu verleitet, die Verantwortung an PolitikerInnen rechts der Mitte zu delegieren.
    Es braucht wieder gesellschaftspolitisch interessierte und motivierte Jugendliche, die unsere Gesellschaft aus der Sackgasse führen.

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