Politik

Neue Normalität (2): Ja, als innovative Zukunft!

Im viel gerügten Schweden (ja, ich weiß, sie haben horrende Todeszahlen und sie haben selbst zugegeben, dass sie beim Schutz von Alten- und Pflegeeinrichtungen schrecklich versagt haben) konnte die Bevölkerung selbst entscheiden, ob sich Menschen etwa in Cafés treffen und unter Wahrung des Sicherheitsabstands zusammensetzen. Das nennt man Eigenverantwortung, die unter anderem ja auch Ergebnisse zeigt, die gesundheitspolitisch nicht uninteressant sind, etwa dass knapp ein Fünftel der Bevölkerung Stockholms über Antikörper gegen das Virus verfügt. In den österreichischen Modellen nach Repräsentativstudien liegen wir da nicht einmal bei einem Prozent. Wir sind weiterhin im Modus, uns vor der Gefahr der Infektion wegzuducken; wie auch immer es um eine Immunität nach Erkrankung (symptomlos bis schwer) stehen mag, bleiben wir in Österreich auf die Befreiung von der Pandemie durch Medikamente oder Impfstoff angewiesen.

In den vier Lebensregeln der Ausgangsbeschränkungen, dem ideologischen Fundament der angesteuerten „neuen Normalität“, erlebten überwunden geglaubte soziale Phänomene seltsame Renaissancen. So kam der Frau in der ausgangsbeschränkten Familie die Rolle zu, für die Kinder zu sorgen, in der Küche am Herd zu stehen, ein Familienverband nach ganz traditionell konservativem Verständnis. Aus der gleichen ideologischen Perspektive kam auch die Einschätzung, dass jede Familie in Österreich ein Einfamilienhaus mit Garten bewohnt. Dieser Logik folgend öffnete man als Erstes Baumärkte und Gartencenter, um allen (?) Österreichern eine besondere Freude zu machen.

In diesen Wertehaltungen und Handlungsstrategien entspricht die große Regierungspartei aber bestenfalls jenen 37,5 Prozent der Bevölkerung, die ihr zuletzt dieses Votum bei der Nationalratswahl gegeben hat. Die Ausrollung der Maßnahmenregeln erging aber an hundert Prozent der Bevölkerung. Bei 62,5 Prozent widerspricht dies in meiner Hypothese ihrer Wertewelt und ihrem Lebensstil. Nachdem dieser Mehrheitsanteil in Güte und Besonnenheit die Maßnahmen der Ausgangsbeschränkungen äußerst diszipliniert und verständnisvoll mitgemacht hat, müsste nach der Lockerung mit Anfang Mai gesellschaftspolitisch gegengesteuert werden.

Was aber tat die Regierung? Sie lavierte sich weiterhin um Entscheidungen herum, zeigte ihre Feindlichkeit gegenüber allem Sinnlichen, intensivierte den verursachten Ruin durch Verzögerung und Mutlosigkeit. Man krümmte sich um das Thema Bewegung und Sport in geschlossenen Räumen, nannte den Sportunterricht in Schulen „virologisch heikel“, während man sonst ganz eifrig für die tägliche Bewegungseinheit für Kinder und Jugendliche plädiert. Man lässt den Betrieb der darstellenden Kunst, ob Theater, Musiktheater, Film vertrocknen. Die nun bis 1. Juli geltenden Perspektiven (bis 100 Menschen im Publikum) bleiben bescheiden, da der Produktionsvorlauf ja auch seine Zeit braucht. Fachleute entwarfen zwar schon zuvor Konzepte, wie all dies dem weiterhin hehren Ziel, die Verbreitung des Virus einzudämmen und es damit auszuhungern, entsprechen kann. Doch statt sich mit den Expertisen auseinanderzusetzen, den sprühenden Optimismus und die kreative Gestaltungskraft in eine Praxis zu überführen, damit ein Leben in jener Vielfalt und nach unterschiedlichen Bedürfnissen zuzulassen, wie dies einer modernen Republik am Beginn des 21. Jahrhunderts entsprechen würde, erscheint der Weg des Verbots einerseits einfach, andererseits feig, drittens als Spiegel eines anscheinend herzlich willkommenen Bilds von Gesellschaft in Österreich. In diesem Spiegel schauen wir furchtbar alt aus, obwohl es sich um eine „neue Normalität“ handeln soll.

Wenn das „neu“ nämlich eine Aufladung im Sinn von Innovation erfahren wollte, hieße dies, in Maßstäben zu denken, die beispielsweise in Sachen Arbeitsmarktumgestaltung getragen sein könnten von Ideen, wie sie Neuseeland mit der Vier-Tage-Woche aufs Tapet bringt. Gefordert ist ganz rasch auch eine dringend erforderliche Anti-These zu Begehrlichkeiten, die die österreichische Industrie nach Muster der deutschen stellen wird, nämlich dass Klimaschutzziele nun aufgeschoben, wenn nicht sogar aufgehoben werden müssen, um das notwendige Wiedererstarken der Wirtschaft nicht zu gefährden. Zwischen diesen beiden Beispielen spannt sich ein großer Bogen einer reichhaltigen to-do-list, die nicht von Ideologien an der Macht, sondern in Achtung und unter Einbeziehen aller Werte und Interessen ausverhandelt und abgearbeitet werden muss. Für eine innovative Zukunft, die es dann (für alle) wert ist, neue Normalität genannt zu werden.

Teil 1 erschien am 31.5.2020.

Foto: Pexels/Free Photo Library

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