Politik

Ein Indikator für den Zustand der Demokratie

Die Flüchtlingsbewegung, vor allem aus Syrien, erreichte im Umstand, dass in der Pannenbucht einer Autobahn im Burgenland ein LKW mit 71 schrecklich um ihr Leben gekommenen Menschen aufgefunden worden ist, eine emotionale Präsenz, die wiederkehrende Nachrichten von Hundertschaften im Mittelmeer Ertrunkener nicht erzeugen konnten. Schon viele Flüchtlinge kamen zuvor in Österreich an, in Zeltstädten wurden sie menschenunwürdig untergebracht, das überfüllte Flüchtlingslager in Traiskirchen wurde von Amnesty international untersucht, desaströse Verhältnisse wurden dokumentiert und kommentiert.

CIMG0189Was macht die Politik? Sie schreibt mit. In einer Diskussionssendung („Runder Tisch“, ORF2 am 27.8.2015) beginnt die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner, kaum spricht der erfahrene Flüchtlingslager-Manager Kilian Kleinschmidt, sich Notizen zu machen. Nur ein böser Zwischenschnitt? Eher handelt es sich dabei um das Bild zum Symptom, das da heißt: Sie wissen nicht, was sie tun sollen. Politik allerdings ist (besser vielleicht: wäre) dazu da, Visionen zu entwickeln und Konzepte vorzulegen, wie Problemfelder der Makro-Ebene bewältigt werden können. So wie Bauarbeiter die Straße markieren, weil sie wissen, wie darunter die Leitungen verlaufen, die sie reparieren wollen, haben Politiker Maßnahmen zu setzen, die die gesellschaftliche Stabilität je nach tagesgegebenen Umständen erhalten lassen. Dafür sind sie gewählt, das Volk als Souverän gab ihnen in demokratischer Legitimierung den Auftrag dazu. Politik ist nichts anderes als eine Institution des sozialen Handelns, „welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 2005, S. 3).

Das entscheidende Wort lautet: Sinn. Die seit heute durchgeführten verstärkten Kontrollen von aus Ungarn kommenden Kleinlastwagen und Transportern  im Burgenland bringen aus einer Nacht als Ergebnis, dass die Behörden 200 Flüchtlinge in Empfang genommen und fünf Schlepper verhaftet haben. In nur geringer Zeit werden Schlepper andere Routen wählen. Kontrollen sind Grenzzäune ohne Baumaterial. Deutschland versucht, mittels Charterzüge die in Budapests Bahnhöfen angewachsene Flüchtlingsmasse aufzulösen. Diese Momentaufnahmen aus der Nachrichtenlage des heutigen Tags machen sichtbar, dass die geltenden Regeln, z.B. die Dublin-III-Verordnung, unter den gegebenen Umständen nichts taugen.

Dazu mischt sich mit dem heutigen ersten Arbeitstag nach den obligaten Sommerferien aller EU-Behörden im August die Stimme des Sprechers der EU-Kommission, dass zuletzt geäußerte Vorschläge von nationalen Regierungspolitikern „schon im Mai auf den Tisch gelegt worden seien“,  man sei überrascht, dass es kritische „Sommerstimmen gegen die Kommission“ (orf.at, 31.8.2015) gegeben habe. Das ist Mimosentum zum absolut falschen Zeitpunkt.

Vorschläge sind noch keine Handlungen. Sie sind drei Monate gut herumgelegen. Statt mit schlüssigen Konzepten einer sich schon länger abzeichnenden Flüchtlingsbewegung (der Bürgerkrieg in Syrien ist im fünften Jahr!) zu begegnen, geschah auf Makro-Ebene nichts. In diesem Vakuum entfaltet sich Angst, die nicht wenigen zum Motor wird, sich unter den vermeintlichen Schutzmantel bestimmter Ideologien zu begeben. Die Versäumnisse des institutionalisierten sozialen Handelns namens Politik führten lediglich binnen weniger Wochen zu einer Radikalisierung in den europäischen Gesellschaften.

Eine Fähigkeit stellt sich immer mehr als eine Schlüsselqualifikation des frühen 21. Jahrhunderts heraus: Antizipation, die „gedankliche Vorwegnahme des Inhaltes und/oder Verlaufs einer Handlung oder Situation“ (Lexikon zur Soziologie, 3. Aufl, 1994, S. 46). Vorausschauend zu handeln ist ein Auftrag an die Politik für die Makro-Ebene. Privatpersonen leben es vor, wenn man Aktivitäten in Landgemeinden beobachtet, die sich auf Bevölkerungszuwachs durch Flüchtlinge vorbereiten. In diesen Stunden stehen Menschen an Bahnsteigen in Wien oder München, um mit Wasserflaschen und Süßigkeiten die Neuankömmlinge zu laben. Die zivile Bürgergesellschaft kompensiert, was die durch sie eingesetzte Handlungsrepräsentanz Politik nicht (mehr) leistet. Darin entfacht sich eine gewisse Spannung. Oder anders gesagt: Der Umgang mit der Flüchtlingsbewegung fungiert als Indikator für den Zustand unserer demokratischen Systeme.

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