Literatur

Wohin flüchtet Österreich?

Ins schwedische Blockhaus unseres heurigen Urlaubs brachte die Herzallerliebste auch einiges an Zeitungslektüre mit, darunter einen Aufsatz des bulgarischen Schriftstellers Georgi Gospodinov über „Die Vergangenheit als Waffe. Warum der Nationalismus in Europa wieder so erfolgreich ist“ (erschienen in DIE ZEIT/Feuilleton vom 27. Juni 2024, S. 54).

In diesem von Alexander Sitzmann ins Deutsche übertragenen Text ergründet der 1968 geborene Autor mit etwas Schrecken seine eigene dystopische Fantasie. Denn seine von ihm erdachte Geschichte im Roman „Zeitzuflucht“ (2019 von ihm abgeschlossen, 2022 in deutscher Übersetzung erschienen, 2023 mit dem International Booker Prize ausgezeichnet) beginnt sich zu realen gesellschaftspolitischen Zuständen des Kontinents zu verwandeln. Der satirische Ton in seinem Roman scheint also von der Wirklichkeit ein-, wenn nicht gar überholt zu werden.

Sein Erzähler lernt einen Mann kennen, der nennt sich Gaustin, ein findiger Geist. Er entwickelt und errichtet Kliniken, in denen Menschen in die Vergangenheit reisen, in der sie sich wohlfühlen können. Etagen der Klinik, quasi ihre Stationen, erscheinen im Interieur ausgestattet nach Jahrzehnten des jeweiligen Gefallens. Gaustin beginnt mit diesen Architekturen mit der Mitte des 20. Jahrhunderts, erkennt aber bald, dass er auch jüngere Jahrzehnte anbieten muss. Die Nachfrage ist enorm und knifflig wird es, als sich nicht nur Individuen, sondern Staaten für die retro-orientierte Behandlung anmelden.

Das führt dazu, dass im Roman die Europäische Union, der Tendenz von Nationalismus und Vergangenheitsvorlieben folgend, jedes Land beauftragt, ein Referendum zum glücklichsten Jahrzehnt seiner Geschichte durchzuführen. Das Ergebnis wird verbindlich, genau in diesem Jahrzehnt nimmt das Land dann seine gute Zuflucht.

Ich habe mir, in Leidenschaft für kluge Dystopien, natürlich Gospodinovs Roman „Zeitzuflucht“ (ebenso in der Übersetzung von Alexander Sitzmann) besorgen müssen. Im Vergnügen der Lektüre, weil die Erzählung diesen verschmitzten Charakter von Gesellschaftsanalyse vertritt, wie ich das sehr gerne mag, nahm ich also die österreichische „Zeitzuflucht“ interessiert wahr:

„Es schien, als wäre das Votum Österreichs am disparatesten und unklarsten. Hier gab es die größte Anzahl Nichtwähler, und von den Wählern erhielten gleich mehrere Bewegungen, die selbst ziemlich anämisch waren, einen fast identischen Prozentsatz an Stimmen. Die Erinnerung an jenes bunte und vielsprachige Reich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, vor allem befördert von der Literatur und der Secession, erkaltete langsam wie ein auf der Veranda vergessener Kaffee und ein trocken gewordenes Stück Schokoladentorte. Und es endete auch überhaupt nicht gut – Ermordungen von Erzherzögen, der Große Krieg, der Zerfall und alles andere … Das Österreich des Anschlusses vereinte einen beunruhigenden Prozentsatz auf sich, er war aber ebenfalls nicht ausreichend. Immer noch schwebte eine öffentliche Scham, eher Gewohnheit als Überzeugung über allem. Das Österreich der 70er und 80er, dieses schuldbewusste Vergnügen von Ost und West, das seine immerwährende Neutralität in eine immerwährende Quelle von Vergütung verwandelt hatte, war das andere bevorzugte Tortenstück der Wähler. Und am Ende kamen die 90er, als das Geheime der vergangenen Jahrzehnte endlich offenkundig werden konnte – man konnte die Köfferchen öffnen, die Schecks einlösen, die Spione konnten ihren Lohn von ihren doppelten Arbeitgebern einfordern.“ (Georgi Gospodinov: Zeitzuflucht, dt. von Alexander Sitzmann, Aufbau Taschenbuch 2023, S. 268-269, Hervorhebung des Lands im Original)

Ganz knapp, „mit minimalem prozentuellen Vorsprung“, gewinnen in Gospodinovs Roman in Österreich die achtziger Jahre, der Erzähler begründet es so: „Ein Sieg, hinter dem viele ein verstecktes nationalistisches Votum der Erben Haiders vermuteten, dessen Stern gerade in jener Zeit aufgegangen war“ (Anm. Parteitag 1986 in Innsbruck: Jörg Haider bringt mit seiner Wahl die bis dahin liberal ausgerichtete FPÖ von Norbert Steger auf den Kurs von Rechtspopulismus und in Fahrt, mit wachsender Zustimmung bei Wahlen, immer nur dann kurzfristig gebrochen, wenn sich die Partei spaltet oder ein Skandal – z.B. Ibiza 2019 – kurzfristig die Anhängerschaft irritiert).

Gospodinovs Erzähler verfolgt die Reportagen aus Wien und Salzburg zur Abstimmung und vermutet, dass sich die Sieger rasch ein neues Referendum vornehmen werden, um das Glück des Verbleibs der Vergangenheit neu zu definieren. Jetzt erkaltet dann nicht nur der Kaffee auf der Veranda. Welcher Zufluchtsort wird dann in der Alpenrepublik gewählt werden? Gospodinov: „Ganz familiär der Anschluss von 1938.“

Foto: Pexels/Free Photo Library (Eingabe von „Österreich“ als Suchbegriff bei Pexels, mit Dominanz erscheint Hallstatt in Oberösterreich!)

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