In wenigen Tagen, vor hundert Jahren, am 28. April 1918 stirbt im Gefängnis (später dann: Konzentrationslager) Theresienstadt nördlich von Prag ein 24-jähriger Mann. Er ist krank, knapp vier Jahre sitzt er für seine Tat ein. Er handelte im Namen und Auftrag seiner Organisation, im Gegensatz zu Mitstreitern an diesem besagten Tag spielte ihm der Zufall sein Anschlagsziel direkt vor sich. Das Fahrzeug hielt genau vor ihm an, weil es abbiegen wollte. Da steht er, zieht die Waffe, ein Detektiv erkennt den Tatvorsatz, will dazwischen. Zwei Schüsse fallen, einer geht durch die Fahrertür, die Kugel dringt in Folge in den Unterleib der Frau ein, ein zweiter trifft die Halsschlagader des Manns. Am späten Vormittag des 28. Juni 1914 verübt Gavrilo Princip in Sarajevo das Attentat auf den Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie. Es gilt als Auslöser des Ersten Weltkriegs. Ich selbst bin vor elf Jahren bei einem Besuch in Sarajevo, dieser vielfach stigmatisierten, in der räumlichen Gedrängtheit verschiedener Kulturen und Religionen faszinierenden Stadt, genau an der Stelle gestanden, an der der Attentäter die komplex gewordene Situation in Europa mit zwei Schüssen in den Krieg schickte. Der Moment, als ein ganzes Jahrhundert kippte.

Die Straßenecke in Sarajevo, an der sich am 28. Juni 1914 das Schicksal eines ganzen Jahrhunderts entschieden hat – Foto: Semberac/wikimedia commons
Der amerikanische Psychologe Steven Pinker erklärte Gavrilo Princip zur „wichtigsten Person des 20. Jahrhunderts“. Was für ein Superlativ! Ben Elton hat diese Auszeichnung des schmalen Burschen aus einer kinderreichen Familie, sein Vater war k.u.k. Briefträger, in seinem großartigen Roman „Time and Time Again“ aufgegriffen, in dem ein Zeitreisender den Auftrag übernimmt, an einen Tag des 20. Jahrhunderts zurückzukehren, an dem er die nachfolgende geschichtliche Entwicklung tatsächlich verändern kann. Eltons Held Hugh Stanton reist am 1. Juni 1914 in Konstantinopel/Istanbul in der Vergangenheit ein und hat knapp vier Wochen Zeit, um in Sarajevo das Attentat zu verhindern.
Princip war Mitglied der Gruppe „Junges Bosnien“, damit beschäftigt sich auch Pankaj Mishra in seiner Kulturgeschichte „Das Zeitalter des Zorns“. Er arbeitet dabei vor allem heraus, wie das „Junge Bosnien“ und darin Princip dem Ideengut von Giuseppe Mazzini folgte. Wikipedia nennt Mazzini freundlich einen „italienischen Freiheitskämpfer“ des Risorgimento. Mazzini war ein Aufrührer, ein Geschichtsfälscher, ein Einpeitscher, heute würde man ihn einen Populisten nennen:
„Wir müssen die Menschen davon überzeugen“, schrieb er, „dass sie alle Söhne eines einzigen Gottes sind und hier auf Erden einem einzigen Gesetz zu folgen haben.“ Mazzini wandte sich offen gegen die katholische Kirche, allerdings im Namen einer wirkungsvolleren, nützlicheren und ehrgeizigeren Religion. „Die unsrige war keine Sekte, sondern eine Religion des Patriotismus“, erklärte er. „Sekten können durch Gewalt sterben, Religionen nicht.“ (Pankaj Mishra: Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart, aus dem Engl. von Laura Su und Michael Bischoff, 4. Aufl., Fischer 2017, S. 252)
Mishra zieht seinen Leser in den Bann, so wie er die Entwicklung von Politik und Kultur von der Aufklärung bis ins 19. Jahrhundert als Fundamente jener gefährlichen ideologischen Falltüren auslegt, die uns in unserer globalisiert zusammenrückenden Welt heute maßgeblich plagen. Wer auf reichen Erkenntnisgewinn aus ist, muss dieses Buch lesen.