Neben der Unbeirrbarkeit des Kapitalismus, der am ersten Tag nach dem Lockdown seine Fänge nach den Kauflustigen (oder -süchtigen) ausstreckte, erschwert in den Monaten der Pandemie noch etwas anderes eine halbwegs rasche gemeinsame Reise durch diese Ausnahmesituation. Es fehlt an breiter Solidarität im Einhalten der Maßnahmen, breit heißt hier: umfassend, bestmöglich alle.
Wir könnten die schwer eingeschränkte Freiheit jeder und jedes Einzelnen in kürzerer Zeit wieder zurückerobern, wenn wir uns nunmehr in Altruismus zum Wohl des Ganzen üben. Solange aber einige wenige das Mühen einer sich diszipliniert verhaltenden Mehrheit damit torpedieren, dass sie sich nicht von den eigenen Lebensmaximen abbringen lassen wollen, auch wenn die ordnende Hand der Regierung anderes Verhalten verlangt, wird es zu keiner gemeinsamen Anstrengung mit entsprechend dauerhaftem Erfolg kommen können.
Wenn da zum Beispiel ein Jugendlicher an der Salzburger Fortgehmeile am Rudolfskai in die Fernsehkamera erklärt, er lebe nun mal sein Leben und da gehöre Partymachen dazu, Corona hin, Corona her, wird es lange dauern, bis dieses Recht allen und vor allem bei gesundheitlicher Sicherheit wieder zustehen kann.
Da war dann auch noch jener Tiroler Hotelier, der aus eigenem Interesse vorschlug, das Land möge doch bitte im November in einen Lockdown gehen, sodass sein Geschäft danach blühen und gedeihen könne. Sein Wunsch ging in Erfüllung, wenngleich aus anderen Gründen. Mit dem Geschäftemachen muss er wie alle seine Branchenkollegen mindestens bis Anfang Jänner zuwarten. Die Idee, dass das Kollektiv für ihn und seine Interessen tätig wird: wirklich schnuckelig.
So verstehe ich auch den Brief der Präsidenten des Österreichischen Schiverbands und Schischulverbands an die Regierung zu einem „Saisonstart ohne Verzögerung“, beide haben für ihre Unternehmen klare und deutliche Interessen. Auch diese beiden werden sich gedulden müssen. Ihren Egoismus haben sie ungeniert in die Öffentlichkeit getragen.
Als der Staat die Pädagoginnen und Pädagogen aufrief, sich fürs zweite Adventwochenende zu Massentestungen anzumelden, tat die tolpatschige Programmierung des Internetzugangs ohne Zugangsbeschränkung das Ihre dazu. Bürgerinnen und Bürger buchten und überbuchten diese für eine Zielgruppe vorgesehenen Termine eifrig. Es lebe der Egoismus und nicht ein Handeln, das sich an einer Gesamtstrategie orientiert. Darin war, so glaube ich, auch beinhaltet, mit den Lehrerinnen und Lehrern das Online-Tool einmal in einen überschaubaren Testlauf in Echtzeit zu bringen und eine Aussage über die Infektionssituation in einer Berufsgruppe zu erhalten. Die Zahlen zur Beteiligung und zu den Ergebnissen der Lehrerinnen und Lehrer sind darum nicht valide. Denn darunter finden sich viele, die sich als Angehörige des pädagogischen Berufstands für einen sofortigen Antigentest „kostümierten“ und auch damit prahlten, wie es einer Facebook-Bekanntschaft von mir nicht zu blöd war. Das Klicken auf „Freund/in entfernen“ war mir eine Genugtuung.
Der ehemalige SPÖ-Bundesgeschäftsführer Max Lercher klagte in einem posting über den Verlust von Solidarität. Ihm ging es in der Debatte um das Aufsperren des Handels und der Schigebiete beim gleichzeitigen Umstand eines Sterbens von rund täglich hundert Menschen an COVID19 zu weit. Doch sehnt er sich nach einem Gut, das seit Jahrzehnten entschwunden ist. Wohl wird Solidarität von der Ideologie seiner Partei noch hochgehalten, als ein Überbau, ohne jegliche Erdung mehr in der Wirklichkeit. Man mag den Ursprung dieses Verlusts in der Revolution der späten sechziger Jahre sehen, der Selbstbestimmung im Widerstand gegen das Autoritäre. Präziser beschrieb es allerdings der Soziologe Ulrich Beck in seiner Forschung an der Individualisierung („Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne“, 1986), wie traditionale gesellschaftliche Organisationsformen in Fragen des Zusammenhalts erodieren, die Familie genauso wie das Unternehmen. Dann gab es natürlich auch die bekannte Phase des Selbstverständnisses als Ich-AG. Einer, der dies in der österreichischen Politik zu leben wusste, wurde vor knapp zehn Tagen mit einem Urteil in Erstinstanz (noch ohne Rechtskräftigkeit) in die gesetzlichen Grenzen verwiesen. Nicht alles, was sich das Ich vorstellt und auch umsetzen kann, bewegt sich auf jenem Terrain, das Instanzen im Sinn einer vergemeinschafteten Lösung mit Regeln ausgestattet haben.
Womit wir wieder dort wären, was uns in der Pandemiebewältigung die größten Schwierigkeiten bereitet: Ich schätze ein, dass sich gut und gern bis zu 80 Prozent der Bevölkerung in Akribie den notwendigen Regeln unterwerfen, während 20 Prozent nach wie vor darin eine sportliche Herausforderung sehen, die Schlupflöcher zu suchen, zu finden und zu nützen. Denn sie vertreten die Ansicht, ihnen allein gehöre die Welt, sie funktioniere nur nach ihren (selbstgemachten) Regeln.
Die letzteren machen es den zuerst Genannten schwer und zunehmend ärgern sich die, die der Mehrheit angehören, über jene, die das gemeinsame Bemühen mit ihrem Egoismus ruinieren. Das ist nicht ungefährlich für die Gesamtlage, sollte sich dadurch eine Überläuferbewegung auslösen und damit das Mengenverhältnis verschieben. Wenn die kritische Masse zu jenen wandert, die ihren Egoismus als Glaubensbekenntnis bedingungslos leben, dann Gnade uns. Dann wird diese Pandemie noch unzählige Menschenleben fordern, auch solche, die wir leicht hätten retten können. Vom wirtschaftlichen Schaden rede ich heute nicht. Niemand spricht vom sozialen Schaden, der bereits angerichtet ist und den wir alle gemeinsam reparieren müssen.
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