Literatur

Rotskys Revolution im Radio(roman)

Er schrieb den Roman 2020. Im Jahr darauf erschien dieser in Originalsprache als „Radio Nič“ in Czernowitz (Ukraine). Die Arbeit der Übersetzerin ins Deutsche, Sandra Stöhr, und einige, so im Impressum ausgewiesen, wenige mit dem Autor besprochene Abänderungen machen „Radio Nacht“ von Juri Andruchowytsch seit Herbst 2022 auf dem deutschsprachigen Buchmarkt zugänglich.

Ich stieß über einen Beitrag im Fernsehfeuilleton „Kulturmontag“ (ORF2) wieder auf den ukrainischen Autor, den ich auch schon früher liebend gern las, und ließ in mir die Neugierde auf seine neue große Erzählung wecken. In ihrer Fiktion schöpft sie natürlich so ganz aus dem, was vor dem 24. Februar 2022 Lage und Befindlichkeit in Andruchowytschs Heimat gewesen ist. Umso mehr muss diese Geschichte um Josip Rotsky, einem Pianisten, nicht klassisch ausgebildet, Rockstar, ehemaliger Gefängnisinsasse in der Schweiz, also intellektueller Widerständler, auch Attentäter interessieren.

Er sitzt in einer finsteren Nacht auf einer von der Gewalt des Meeres umtosten Insel auf dem Nullmeridian und sendet sein „Radio Nacht“ (seine playlist – variantenreiches Klavierspiel! – kann man sich via QR-Code im Buch aus YouTube fischen!). Rotsky ist Flüchtling und Botschafter dessen, was geschehen war, was ihn durch sein und aus seinem Land getrieben hatte, quer durch die Welt, mit dem Raben Edgar auf der Schulter und dem Mädchen Anime in seiner Begleitung. Als Moderator arbeitet und klärt er auf. Dazwischen macht sich ein auktorialer Erzähler an die wissenschaftliche Rekonstruktion der Spur Rotskys, ein Erzähler, der dann immer wieder in die Figur Rotsky hineinkippt, in die intensiven poetischen Bildwelten, wie sie Autorinnen und Autoren insbesondere aus Osteuropa, auch mit viel Augenzwinkern, so ganz eigenartig wie -sinnig sprachlich zu zeichnen verstehen: Respekt darum für die Übersetzerin Sandra Stöhr und ihre Transformation in die Bildwelt des Deutschen!

Literatur ist niemals Abbild der Wirklichkeit, nutzt aber in der Subjektivität von Beobachtung Teile von ihr als Puzzleteile für ein eigenes Porträt von Welt. So setzt Andruchowytsch etwa dieses:

„Er, Josip Rotksy, hatte zu radikal auf sich aufmerksam gemacht. (…) Umso mehr, als das Regime nach dem plötzlichen Tod des vorletzten Diktators Europas schon Zeit gehabt hatte, sich wieder zu sammeln, rasch umzuorientieren, die inneren Gegensätze zwischen den Gruppierungen, den finanziell-industriellen Familien und anderen Clans zuzuspachteln, um schließlich einen der vielen unehelichen Söhne des verblichenen Diktators zu seinem Nachfolger zu ernennen, den sie zuvor fast gewaltsam aus seiner aufstrebenden Karriere als TV-Comedian gerissen und gewaltsam in den Sessel des Staatschefs verpflanzt hatten.“ (S. 33-34, Hervorhebung im Original)

Mir gefiel diese Spitze des Erzählers gegen Selenskyj gut, relativierte sie ihn doch als überall in seinen Videoschaltungen auftretenden Präsidenten in jener anscheinend unberührbaren Makellosigkeit und darum unter einem Schutzmantel von Reflexion, die schon auch geboten wäre: Eine sehr spannende und darum sehenswerte Dokumentation zu seinem politischen Werdegang auf ORFIII vom 18.2.2023 (leider nicht mehr online verfügbar) legt das auch nahe. (Niemand von halbwegs völkerrechtlich gebrieftem Verstand wird an der Rollenverteilung zwischen Überfallopfer Ukraine und Aggressor Russland zweifeln wollen und trotzdem sollte dies das Nachdenken über alle Protagonisten nicht lahmlegen.)

Es ist anzunehmen, dass es übermorgen Dienstag, wenn Juri Andruchowytsch auf Einladung des Veranstalters Literaturschiff in Linz (Oberösterreich) im Theater Tribüne zu Gast ist, im moderierten Gespräch natürlich um die Ukraine an sich gehen wird. Er liest auch aus seinem Roman, das kann man natürlich ebenso selbst tun. Die Lektüre kann ich, sehr überzeugt von diesem großen Werk, nur empfehlen.

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