In Linz (Oberösterreich) ging die Empörungswelle unlängst ordentlich hoch. Da wurde bekannt, dass ein 17-Jähriger, gerade erst aus der Haft entlassen (er zündete vor gut einem Jahr in einem Stadtteil im Linzer Süden ein Polizeiauto an), neuerlich behördlich auffällig bzw. straffällig geworden war. Einerseits fand er sich unter knapp 200 Jugendlichen, die sich in der Halloweennacht für die Innenstadt verabredet hatten, um dort einer Filmvorlage folgend eine Randale zu veranstalten, andererseits gehörte er zu einem Trio, welches eine knappe Woche später ein Taxi gekapert, den Fahrer bedroht, verletzt und eine Spritzfahrt unternommen hatte.
In Folge griffen die Journalisten des Chronik-Ressorts ins digitale Archiv und holten die Argumentation seines Rechtsanwalts zurück ans Medienlicht, „nie wieder würde er [gemeint der jugendliche Täter; Anm.] so etwas machen. Er habe sich mitreißen lassen und aus seinen Fehlern „sehr, sehr viel“ gelernt. Worte, die nicht einmal acht Monate alt und trotzdem schon überholt sind. Als Opfer einer „toxischen Gruppendynamik“ hat sein Anwalt einen 17-jährigen Linzer beim Prozess vor dem Landesgericht bezeichnet“ (OÖ. Nachrichten, 10. November 2022, S. 26). Jetzt gehört mit Sicherheit zur Rolle des Verteidigers, für seinen Mandanten zu argumentieren. Das muss Linie sein, auf Basis wohl von Gesprächen und auch Einschätzungen, die man in Kommunikation gewinnt. Falls man hier von Gewinn sprechen kann.
Ich las in diesen Tagen ein ungemein spannendes Buch mit einem in seiner deutschen Übersetzung komplett irritierenden Titel: „Die Kunst, nicht aneinander vorbeizureden“. Der Originaltitel bringt uns schon näher an die Sache heran: „Talking to Strangers. What We Should Know About The People We Don´t Know”. Autor ist der britisch-jamaikanische Journalist Malcolm Gladwell, der sich wiederholt in seinen Büchern (etwa in „Tipping Point“ oder in „Blink!“) mit sozialpsychologischen Phänomenen beschäftigt hat. Hier in diesem Buch untersucht er an Beispielen wie etwa der Geschichte rund um Bernie Madoff, dem „Architekten“ der Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008/2009, oder um die zu Unrecht verurteilte Amanda Knox Wahrheitsmodus und Durchschaubarkeit, bei ihm zwei Schlüsselbegriffe, denen wir einerseits verpflichtet sind (Wahrheitsmodus), andererseits irrgeleitet auf den Leim gehen (Durchschaubarkeit). Ohne unseren Glauben daran, dass wahr ist, was uns jemand sagt, würden wir unseren Alltag nicht bewältigen können. Bricht dieses System auf, weil Erkenntnisse ans Tageslicht dringen, heißt es dann: „Das darf doch alles nicht wahr sein!“. So kommentierte es etwa der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen, als sich das in diesen Herbst 2022 hineingeblasene Hauptthema der österreichischen Innenpolitik, Stichwort Chat-Affäre, Mitte Oktober mit weiteren aufgedeckten, unschönen digitalen Dokumenten noch mehr aufplusterte. Wir blicken plötzlich drei Jahre zurück in die damals wirkende innenpolitische Mechanik und es schält sich eine Wahrheit noch besser heraus, als sie uns schon bekannt zu sein schien.
Wahr ist viel mehr, und der Abstand zwischen den beiden Wörtern „viel“ und „mehr“ wurde wie auch schon im Titel dieses blog-posts mit guter Absicht getippt, denn die Wahrheit lässt sich nicht in einem Gespräch oder in wenigen eruieren, ebenso nicht wie Durchschaubarkeit von Einstellung oder Absicht einer Partnerin oder eines Partners in Interaktion und seiner bzw. ihrer damit einhergehenden Kommunikation.
Ich las Gladwells Buch, während bestimmte Interessensgruppen angesichts der kriminellen Energie des besagten 17-Jährigen und anderer Jugendlicher, auch jüngerer, eigentlich noch Kinder, eine allgemeine Herabsetzung von Strafmündigkeit verlangt hatten und andere um Verständnis für die Rebellion von Jugendlichen warben, die in zwei Jahren Pandemie auf so viel verzichten mussten: Das sind nur zwei Positionen unter vielen weiteren, durchwegs verschiedenen Wahrheitsansprüchen. In jedem artikuliert sich, dass man, was geschehen ist oder geschieht, durchschaut hat, besser: hätte. Wäre es nur wirklich so einfach: Wer Gladwell liest, weiß, dass es um Komplexitäten geht, denen wir uns stellen müssen. Dazu brauchen wir Geduld, Zeit und einiges an Arbeitsaufwand.
Kategorien:Soziales Handeln