Literatur

Meine Welt ist nicht deine Welt

Dieser Satz, diese Erkenntnis trifft den Forscher. Hart. In einem Tiroler Bergdorf. Dort hat er sich im Wirtshaus einquartiert. Davon verspricht er, der Fremde, sich, leichter Aufnahme in der Dorfgemeinschaft zu finden. Als höchste Weihe, die er erhalten kann. Es ist der Pfarrer, der ihm nahelegt, nicht in der Historie zu graben, um den seltsamen Feuertod einer vermeintlichen Hexe zu klären. Der Fremde schreibt nun anderes. Seine Geschichte im Dorf.

In seinem großen Roman „Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod“ ergründet Gerhard Jäger vor der Folie von Ereignissen in den fünfziger Jahren die sozialen Gesetze eines Dorfs, hoch droben in einem engen Tal, im schneereichen Winter, eingekesselt von Lawinen. In der äußeren Handlung des Romans reist ein alter Mann aus Amerika letztmalig über den Atlantik, um in Innsbruck den Bericht des Fremden, das Skript liegt im Tiroler Landesarchiv, zu lesen. Er liegt in vier Teilen vor, seine aneinandergereihten Bezeichnungen geben dem Roman seinen Titel.

Bei Heyne erschien die Taschenbuchausgabe. Heyne steht als Verlagshaus nicht zwingend dafür, Meisterwerke österreichischer Literatur für interessiertes und anspruchsvolles Lesepublikum bereitzuhalten. Die Entdeckung verdanke ich meiner Liebsten. Und dem Zufall, dass das Buch während eines Gesprächs, das sie führte, auf dem Schreibtisch ihres Gesprächspartners lag. Da gab es freilich Bezug zu Tirol und Nachkriegsösterreich, Literaturnähe sowieso: Deswegen muss das Buch dort seinen Platz gefunden haben. In Autor und Titel ausgespäht war es rasch besorgt. Die Lektüre im Sommerurlaub kühlte uns die Köpfe, aber auch nur an den Stellen, wo es vorrangig um den Winter ging. Die Leidenschaft in den Figuren, vor allem die sprachliche Kraft und eine versierte Musikalität in der Gestaltung der Prosa lehrten uns, für diesen Autor zu brennen.

Gerhard Jäger, 1966 in Dornbirn geboren, war Behindertenbetreuer und Lehrer, er wandte sich dem Journalismus zu, arbeitete als freier Redakteur vom Familienwohnsitz in Imst (Tirol) aus. Ein tragischer Haushaltsunfall im Dezember 2007 machte ihn querschnittgelähmt. Nach intensiven Reha-Maßnahmen und mit Hilfe eines Sprachcomputers (als Ersatz für die verlorene Feinmotorik) begann er, Bücher zu schreiben. Zwei Romane sind erschienen. 2018 starb Jäger viel zu früh an den Folgen einer Gehirnblutung.

Dem vielfach gepriesenen Debüt „Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod“ (2016) ließ er den Roman „Alle Nacht über uns“ (Picus Verlag, 2018) folgen. Hier begleitet der Erzähler einen Soldaten durch eine Nacht Wachdienst an einer Grenze. Die Kapitelstruktur wählt die jeweiligen Uhrzeiten der vollen Stunden. In dieser Nacht als erzählter Zeit und Erzählzeit erörtert (sich) der junge Mann das Thema Flucht und Fluchtverhalten. Er, zwar noch jung an Jahren, und seine Familie haben verschiedene Erfahrungen dazu beizutragen. Wiederum wächst die Kraft des Texts aus Jägers Stil, mit dem er seine Hauptfigur studiert und ihr eine sehr bewegte Persönlichkeit gibt, diesem Staatsdiener mit dem Schießbefehl, auf seiner Metallkonstruktion eines Wachturms, in Kälte und Regen einer Nacht.

In einem Nachwort zu seinem Erstling räsoniert Jäger in Dankbarkeit, dass ihm die Tür zur Literaturwelt geöffnet worden sei, ihm als einem „no name“ der österreichischen Gegenwartsliteraturszene. Der Zufall, ihm sei´s gedankt, gab uns seinen Namen: Denn ich will die Lektüre seiner beiden Romane auf keinen Fall missen, ein Lückenschluss in meinem Erkunden der Literaturlandschaft Österreichs. Ich lade ein, es mir gleich zu tun.

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