Kaum etwas verdeutlicht es in diesen Tagen so wie das Reisen. Mit dem heutigen Pfingstmontagabend geht nach dem langen Wochenende nach Christi Himmelfahrt vor acht Tagen die zweite große Prüfung im Frühjahr 2022 für alle Reisehungrigen zu Ende. Endlich wieder die Lust nach einem kurzfristigen Tapetenwechsel ausleben! Und Zeit im Stau verbringen, etwa wie am Sonntag, 29. Mai 2022, jenem auf dem Weg von Bozen über den Brenner nach Innsbruck, drei Stunden länger als üblich für eine 120 Kilometer lange Strecke. Das ist der Vorgeschmack auf die Reisewochenenden in den starken Monaten der erholungsmotivierten Mobilität, also Juli und August.
Oder Zeit am Bahnhof erleben, weil man aus überfüllten Zügen wieder aussteigen muss: Was freute man sich im zuständigen Ministerium über die enorme Nachfrage nach dem Klimaticket! Jetzt aber nutzen die Konsumenten dieses und zwar ausgiebig. Logisch, die/der Reisende hat dafür bezahlt. Die Infrastruktur der Bahn scheint dieser Nachfrage nicht gewachsen. Die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) berichten vom Mangel an Zuggarnituren und sie wollten mit einer Platzreservierungspflicht im Fernverkehr, so wie es in Frankreich längst üblich ist, die Reiselust regulieren, steuern, organisatorisch wieder in den Griff bekommen. Am vergangenen Mittwoch dann die 180-Grad-Wende: Nein, doch keine Reservierungspflicht, ab sofort wird bessere „Lenkung“ versprochen, sagen zuständige Menschen im anscheinend eben aufgewachten ÖBB-Vorstand.
Denn zuvor krachte die Veränderungsbewegung hin zu mehr Mobilität per öffentlichem Verkehr in ihre eigene Barriere: Die erwächst aus dem Umstand, dass das Eine mit dem Anderen nicht zusammengedacht, dementsprechend geplant und dann umgesetzt erscheint. So zerbricht die Euphorie über die Bereitschaft einer Masse zur Veränderung – hier: in der eigenen Mobilität als Beitrag gegen den Klimawandel tatsächlich zu gehen und zu leben – an der wirklich mickrigen Realität des gegenwärtig Möglichen.
Was für ein Muster!
Denn unsere Gesellschaft besteht weiterhin aus (in Begriffen der Moderne) westlich-industriell geprägten Nationalstaaten. Es geht um die Interessen jedes einzelnen Staats. Das zeigt sich im Gezerre um gemeinsame Sanktionen gegen Russland. Die russische Aggression gegen die Ukraine enttarnt schonungslos, dass transnationale Übereinkünfte, Kooperationen oder gar gemeinsame Problemlösungsszenarien in Zeiten eingeschränkter Verfügbarkeit von Rohstoffen in Europa mehr denn je als gescheitert anzusehen sind. Der Krieg funktioniert aber auch als ein willkommenes Feigenblatt. Es soll die Schwachstellen oder viel eher die Verletzlichkeit globalisierter Wirtschaftsprozesse bedecken.
Kein Staat ist und noch weniger mehrere zusammen sind in der Lage, die Zusammenhänge von Ursachen und Wirkungen vorauszudenken, zumindest zu analysieren oder bestenfalls aktiv produktiv zu gestalten. Der Verkehr an verlängerten Wochenenden ist dafür ein Symptom. Ein anderes Beispiel bietet das vollkommen misslungene Einlassen von 80.000 Fußballfans ins Stade de France in Paris zum Finalspiel der Champions League 2022.
Wir meinen uns im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, gerade auch mit den Werkzeugen der Digitalisierung, auf einer sicheren Seite und simulieren uns damit in den Irrglauben, dass wir alles bestens organisiert im Griff hätten. Die Realität lehrt uns ganz rasch das Gegenteil. Eingeständnisse im Sinn eines Erkenntnis- und somit Lernprozesses vermissen wir genauso wie eine Fehlerkultur. Werden diese zwanziger Jahre als eine Zeit des großen Versuch-und-Irrtum-Stils von Politik und Wirtschaft in die Geschichte eingehen?
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Kategorien:Klima, Mobilität, Philosophie, Politik