Schafskälte sei Dank! Da war sie wieder, die Unterbrechung des Radioprogramms mit dramatischer Musik. Dann die Sprecherstimme darüber: „Das ist eine – jetzt wird der Radiosender genannt – Wetterwarnung. In den Bezirken soundso ziehen gerade heftige Gewitter durch, mit Hagel in Tischtennisballgröße, Schlagregen, Sturmböen bis 100km/h.“ Im Hintergrund bearbeiten Bögen in Sägebewegungen Saiten von Geigen, Bratschen, Celli, Schlägel wirbeln über Trommelfelle. Auch mein Smartphone kennt seit Updates vor ein paar Monaten mittlere und höhere Wetterwarnstufen nach Ampelfarben (gelb oder rot) mit Einblendungen wie Gewitterwarnung, Windwarnung, Warnung vor starken Niederschlägen. Der Blick in den Himmel liefert selbstverständlich die authentischere Information.
Unsere Entmündigung von all dem, was uns als Selbsteinschätzungsfähigkeit gegeben sein sollte, und die direktiven Anleitungen anstelle von Handlungsweisen, die ein halbwegs vernunftbegabter Mensch selbst in Eigenverantwortung zu entscheiden befähigt sein soll, treiben den Philosophen Robert Pfaller schon einige Zeit an. Er nennt diese eigenartige Gegenwartstugend Interpassivität, wir delegieren Entscheidungen für Handlungen oder auch Empfindungen auf andere Menschen (Radiosprecher) oder gar auch Dinge (Smartphones).
Jetzt will ich die Gefahr eines Gewitters nicht kleinreden und ich erinnere mich sehr gut, wie eine quasi kulturelle Prägung zu unterschiedlichen Handlungen angesichts von Blitz und Donner führen kann. Wer am schwedischen Fjäll wandert, erlebt im Sommer Gewitter in einer Regelmäßigkeit, nach der man die Uhr stellen kann. Das kommt daher, dass in der Hitze eines skandinavischen Sommers vom Atlantik her, also vor der norwegischen Küste, Feuchtigkeit aufgenommen wird, die sich vom Westen her am Fjäll staut, die dabei auftretenden Temperaturunterschiede führen nolens volens zur Entladung, täglich zwischen 15 und 16 Uhr beginnend. Angehörige eines älplerischen Volks wie wir Österreicher gehen sodann vom Berg (auch in Ermangelung von nur irgendetwas, was einem am Fjäll Schutz bieten könnte, kein Unterstand weit und breit), so haben wir es in der Sozialisation unseres Bergsteigens in den Alpen gelernt. Währenddessen kann man Einheimische beobachten, die erst recht bergan stiefeln. Dieses Verb ist hier vollkommen richtig gewählt, denn der Schwede trägt zum Wandern Gummistiefel (als Sicherung gegen Blitzeinschlag?).
Die Gewittersituation ist ein symptomatisches Beispiel für den uns in den vergangenen Jahren immer mehr zugemuteten Drill zur besonderen Behutsamkeit. Ich saß in meiner Kindheit auf der Bank im Fond des Familienautos, ohne Kindersitz, in den ersten Jahren (vor Einführung der Sicherheitsgurtpflicht) sogar unangeschnallt. Ich fuhr Fahrrad ohne Helm und Rollschuhe ohne Knie- und Ellbogenschützer. Memes, die dazu auf social media kursieren, feiern uns, also meine Generation, sehr gern als Überlebenskünstler. Wie wir das nur geschafft haben!
Unser Alltag steht heute im Zeichen eines beständigen Alarmismus, was auch niemanden wundert, denn mit Angst und Alarm lassen sich ganz hervorragend Geschäfte machen. Interessanterweise blieb ein Standard-Alarm im heurigen Frühjahr aus, weder über Plakate noch in Fernsehspots krabbelten überdimensionierte Zecken, die die Bevölkerung daran erinnern wollten, ihre Schutzimpfungen aufzufrischen (die Durchimpfungsrate gegen FSME ist im Vergleich zu anderen Impfungen erstaunlich hoch).
Der Alarmismus funktionierte auch prächtig in unseren Maßnahmen gegen das Coronavirus und das Überschießende, was dem Alarmismus mit Konsumbelebungsabsicht einfach eigen ist, leben wir weiterhin darin, dass wir uns beim Betreten von Geschäften, Ordinationen, Apotheken und erst recht öffentlichen Gebäuden unsere Hände desinfizieren. Am Pfingstmontagabend äußerte sich dazu auf Moderatorenfrage die Virologin Elisabeth Puchhammer-Stöckl in der Zeit im Bild 2 (ORF). Sie zeigte sich verdutzt, dass wir dies nun schon wochenlang weiterhin machen, obwohl relativ bald klar wurde, dass eine Infektion über Oberflächen ausgeschlossen werden kann. Im Gegensatz zu jener über Tröpfchen und Aerosole, warum ja auch das Abstandhalten zur Grunddisziplin unseres Alltags in der Pandemie geworden ist: Dass dies nun trotz oder wegen der Lockerungen nicht mehr wirklich klappt, wäre wahrlich ein Grund für Alarm im großen Stil. Seltsamerweise bleibt der aus. Abstandhalten braucht kein Produkt, mit dem man gute Geschäfte machen kann. Babyelefant-Attrappen aus Holz, Plüsch oder aufblasbar verheißen nicht jenen immensen Umsatz, der sich mit Desinfektionsmitteln für Hände und Flächenreinigung zur Zeit machen lässt.
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