Wir fahren das alltägliche Leben, vor allem unsere sozialen Kontakte, auf ein Mindestmaß zurück, entschleunigen uns, schalten den permanenten Leistungdruck ab, den wir uns selbst geben. Somit wäre jetzt gut Zeit, darüber nachzudenken, was dieser angeleitete soziale Wandel über seine unmittelbare erwartete Wirksamkeit, die in der Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus liegt, hinaus bewegen kann.
Ein Virus zeigt uns die Fragilität der sozialen Welt in ihrer globalisierten Vernetzung. Vom Ursprungsland aus hat es das Virus verhältnismäßig schnell nach Europa geschafft (wobei ich mir durchaus vorstellen könnte, dass es deutlich früher da war, als die institutionalisierte Wahrnehmung es für uns alle sichtbar gemacht hatte). Irgendwie ist das Coronavirus der Flügelschlag des Schmetterlings, der in der Kettenreaktion rund um den Globus den Sturm auslöst. In dem befinden wir uns gerade. Wir werden durch ihn kommen, keine Frage. Wann? Mit welcher Bilanz? Diese Fragen bleiben offen. Auch jene nach dem „danach“, was zugleich auch wieder ein „davor“ sein könnte: Was wollen wir tun, um eine Wiederholung zu verhindern? Was lernen wir daraus? Was verändern wir?
So ein Ereignis mit einer großflächigen, im konkreten Fall globalen Indikation macht im Windschatten einen Denk- und Handlungsraum auf, in dem die Bereitschaft zu großen Veränderungen, zur Korrektur von Prozessen Platz zur Realisierung fände. Die Gesellschaften dieser Welt sind nur nicht imstande, sich zu koordinieren. Den letzten Klimagipfel in Madrid darf man gern als Beispiel nehmen.
Ich habe in meinem Leben schon zweimal so eine Stimmung erlebt, die erste Ende April 1986, nach dem GAU im Atomkraftwerk Tschernobyl. Ich diente damals dem Staat in der Landesverteidigung und als Präsenzdiener hatten wir die unmittelbare Wirksamkeit darin gespürt, dass Sport im Freien abgesagt, Rasenmähen untersagt wurde und beim Wachdienst am militärischen Objekt („Charge vom Tag“) die Dienstpflicht um das Messen der Strahlung im Rasen vor dem Gebäude im Halbstundentakt erweitert worden war. Die kurz aufflackernde Diskussion zu Ausstiegsszenarien aus der Atomenergie trug damals nicht wirklich Früchte. Selbst über das Abbauprogramm von Atomkraftwerkoldtimern, „den alten Brütern“, nach dem GAU von Fukushima (auch schon wieder neun Jahre her!) redet heute kein Mensch mehr.
Das zweite Ereignis meines Lebens einer weltweiten Indikation war das Attentat auf die Twin Towers des World Trade Centers am 11. September 2001. Wenige Wochen danach nahm ich an einem Soziologieseminar von Wieland Jäger zu „Theorien sozialen Wandels“ teil. Die Aktualität und Nachwirkungen des Terroranschlags führten zu einem spannenden wissenschaftlichen Disput über Neuordnungen gesellschaftlicher Systeme in unserer Welt. Ich erinnere mich, dass wir sehr beseelt vom Diskutieren nach drei Tagen auseinandergingen und zugleich wussten, dass nichts davon, was wir mit Theorien und Denkansätzen kluger Köpfe unserer wissenschaftlichen Disziplin gestützt entwickelt hatten, im politischen Gefüge eine Chance auf Verwirklichung findet. George Bush (also der Junior) blieb im erwartbaren Handlungsmuster des Vergeltungsschlags. „Der Krieg ist die bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, sagt dazu Carl von Clausewitz.
Jetzt sitzen wir also bestmöglich für uns allein in Büros, zu Hause beim Teleworking, sind abseits von unserer Erwerbstätigkeit noch ein bisschen auf Familie eingestellt und von jeglicher Buntheit des Lebens, von Sport, Kunst und Kultur, Geselligkeit abgeschnitten. Wegen einer Pandemie. Was heißt diese notwendige Einschränkung von Freiheit in Demokratien für uns? Wie definiert sich (vor allem) Solidarität neu, die von allen vorzugsweise für die „vulnerablen Risikogruppen“, wie es fachsprachlich heißt, gefordert wird, dies trotz einem Zeitgeist, der sich sonst ohne Erbarmen dem Hyperindividualismus verschrieben hat? Unter anderem darüber lohnte es sich, nun nachzudenken. Nicht nur: schön wäre, wenn all das, was Gedanken hypothetisch konstruieren, zumindest partiell ins Leben gebracht werden könnte. Darin läge wahrer Fortschritt. Mag das auch nach Besserer-Zukunft-Romantik klingen: es ginge gerade wieder mal eine Türe dafür auf. 1986 und 2001 haben wir sie zuletzt zugeschlagen. 2020?
Foto: Schnappschuss aus meinem Bürofenster vom 12.3.2020, knapp vor Mittag, entstanden während einer Sekunde (Nachdenk)Pause im Krisenmanagement
Kategorien:Soziales Handeln