Nosing Around: Danke, dass Sie sich Zeit für ein kurzes Gespräch genommen haben.
COVID-19: Gerne, kein Problem. Meine Kollegen arbeiten ja währenddessen.
NA: Für unsere LeserInnen möchte ich nur kurz erklären, dass wir natürlich den nun gebotenen Abstand halten. Wir befinden uns mindestens virtuelle zwei Meter voneinander entfernt. Bevor wir ins Gespräch kommen wollen, würde ich gerne klären, wie ich Sie korrekt anreden darf …
C: … sächlich, ich bin ja das Virus. Das möchte ich gleich einmal klarstellen, weil ja vielerorts der Virus gesagt wird. Das ist zwar auch richtig. Aber sagen Sie einfach COVID-19 zu mir.
NA: Gut. Mich interessieren vorrangig die sozialen Auswirkungen, die Ihr Auftreten mit sich bringt. Für das Virologische bin ich zu wenig kompetent. Meine Informationen dazu hole ich mir nur aus Lektüre von Fachbeiträgen. Sie sind also nicht in einem Labor gebaut worden …
C (lacht kurz): … neinnein, ich bin eine Laune der Natur, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
NA: COVID-19, Ihren Ursprung haben Sie in China. Wir datieren Ihre Geburt auf Anfang Dezember, jetzt schreiben wir Mitte März. Ihre Ausbreitung erfasst die ganze Welt und sie dringt in alle Fragen des sozialen Lebens ein. Wie ist Ihnen das in so kurzer Zeit gelungen?
C: Einerseits kommt uns das reiche Angebot an Wirten entgegen, andererseits der Umstand, dass die Wirte nahezu besessen davon sind, große Distanzen rund um den Globus in möglichst kurzer Zeit zurückzulegen. Unser Ursprung liegt gerade in einem Land und in einer Region, in der wir eine Millionendichte an Wirten vorgefunden haben. Über exponentielle Steigerung in der Verbreitung brauche ich Ihnen, so glaube ich, nichts mehr erzählen.
NA: Die WHO erklärte nunmehr Europa zum Epizentrum der Epidemie …
C: … ja, auch hier stoßen wir auf eine hohe Verdichtung von Wirten und wir haben unsere besondere Freude dort, wo sich diese freiwillig in der Zelebrierung ihres von einem Wohlstandsturbo gesteuerten Lifestyles eng aneinanderdrängen. (schmunzelt) Dass man uns die „Schifahrerkrankheit“ nennt, schmeichelt uns, zugegeben, schon. Der freiwillige Verzicht auf Raum, Distanz und darin Respekt für den nächsten tut uns gut. Wenn Sie so wollen, könnte das eine Lehre aus unserem globalen Projekt sein. So überhaupt irgendjemand Interesse hat, daraus eine Konsequenz zu ziehen.
NA: Ist Ihr Auftreten, Ihre temporäre Weltmacht, die Sie anstreben, ein aufklärerisches Projekt?
C: In Ihrem Kopf. Uns geht es vorrangig um Vermehrung. Wir lieben die Wirte. Dass wir darin auch Macht und Einfluss auf alle gesellschaftlichen Teilsysteme gewinnen, ist ein spannender Nebeneffekt. Mit dem haben wir nicht gerechnet. Sie haben ja bereits in früheren Beiträgen geschrieben, dass wir darin die Fragilität des sozialen Lebens der globalisierten Welt aufzeigen. Stimmt.
NA: Damit setzen Sie auf der makrosoziologischen Ebene eine Intervention, wie Sie die Welt zuletzt wahrscheinlich im Zweiten Weltkrieg erlebt hat.
C: Das ist genauso hoch gegriffen wie die Ansage einiger Regierungschefs, dass wegen uns oder gegen uns Krieg sei.
NA: Was ist es dann, eine Pandemie – klar, aber gesellschaftlich?
C: Schwierig. In der Kultur des Lebens erscheint es wie ein Rollback, nicht in allen Bereichen, wohl gemerkt. Ohne Smartphones wäre die Menschheit auch in der Situation unserer dominanten Präsenz noch mehr auf sich zurückgeworfen, als wir es mit der neuen Häuslichkeit nun erreicht haben.
NA: Diese ist erst wenige Tage jung. Wie sehen Sie die weitere Entwicklung?
C: In der zweiten Woche wird es bestimmt schon zäh. Ich glaube, dass bestimmte soziale Gruppen schwer gefordert sein werden. In einer dritten sehe ich schon eine gewisse Brisanz, da werden Konflikte aufbrechen. Ich bin gespannt, wie Sie das bewältigen werden.
NA: Würden Sie mir beipflichten, dass es nun um Disziplin geht, damit eine Verlängerung der Zurücknahme unseres sozialen Lebens auf ein Minimum ausbleibt?
C: Sie werden verstehen, dass es mir aus Eigeninteresse schwerfällt, diese Frage zu beantworten.
NA: Und wie sehen Sie die weltweite Anstrengung, die jeweiligen Staatsangehörigen innerhalb der Grenzen ihres Heimatlands zu bringen?
C: Sie sagen es ganz richtig, es ist eine Anstrengung. Ja, es scheint so, als würde unser globales Auftreten so wirken, dass man die Menschen jeweils nach ihren Nationalitäten zurücksortiert.
NA: Wenn das nun mal nicht gewissen Interessentenkreisen wie den Populisten in die Hände spielt!
C: Bitte, haben Sie Verständnis dafür, dass wir dazu nichts sagen. Das ist Ihr Problem.
NA: Gut, gestatten Sie mir den Sprung vom Großen ins Kleine. Sehen Sie so etwas wie das Aufkommen einer Corona-Depression, also dass die Beschäftigung mit sich selbst und zugleich die Gegenwart mit Ihnen allen, die man nicht sieht, schmeckt, riecht, zu einer Sinnleere führen kann, die ohne Ende erscheint?
C: Das haben Sie irgendwie schön gesagt. Ich wiederhole mich, eine solche Depression ist zur Zeit eine Sache in Ihrem Kopf. Wir beabsichtigen sie nicht. Als potenzielle Nebenwirkung ist sie gewiss nicht auszuschließen.
NA: Was bleibt im sozialen Handeln der Menschen, nachdem Ihre Mission zu Ende gegangen ist?
C: Im besten Fall ein Bewusstsein, dass die Natur ihre Macht zeigen kann, wann immer sie will.
NA: Ich habe da meine Zweifel, ob sich diese Erkenntnis global durchsetzt.
C: Dann vielleicht, dass sich eine Solidargemeinschaft um jene kümmern muss, die vulnerabel sind, wie Ihre Experten gerne sagen: die Alten, die mit Vorerkrankungen, die mit geschwächtem Immunsystem. Also alle, die wir gerade in unserem Fokus haben.
NA: Der christliche Aspekt von Nächstenliebe?
C: Nein, bitte nicht religiös betrachten! Wir sind keine Geißel Gottes. Wir sind eine wachsende community auf Weltreise, wir spiegeln Sie, wir bilden einen noch nie da gewesenen Aspekt von Globalisierung.
NA: Wir wollten aber eigentlich darüber reden, was an sozialem Handeln nach Ihnen bleibt.
C (überlegt ein paar Sekunden): Zwei Sachen – der Gruß „Bleiben Sie gesund!“ Und: der Waschzwang.
NA: Ich bedanke mich sehr herzlich für das Gespräch.
C: Gerne.
Foto: Pexels/Free Photo Library
Kategorien:Satire
Genialer Text. Danke!
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