Nicht zuletzt die permanente Verfügbarkeit von uns via Kommunikationsinstrumente wie Internet und Smartphone hat die Trennlinie in unserem Leben zwischen Arbeit und Privatem fast vollständig verwischt. In der Vielzahl der sozialen Rollen, die wir tragen, strebt das Erwerbsleben nach Dominanz. Der 1959 in Seoul geborene Philosoph Byung-Chul Han, der an der Berliner Universität der Künste lehrt, spricht von einer kontinuierlichen Entwicklung von der Disziplinargesellschaft (Michel Foucault) zur Leistungsgesellschaft. Die Negativität des Disziplinierens, in der wir gehorsam sein mussten, wurde abgelöst von der Positivität des Leistens, plakativ geworden in Barack Obamas Satz „Yes, we can“.
Dem gesellschaftlich Unbewussten wohnt offenbar das Bestreben inne, die Produktion zu maximieren. Ab einem bestimmten Punkt der Produktivität stößt die Disziplinartechnik bzw. das Negativschema des Verbots schnell an seine Grenze. Zur Steigerung der Produktivität wird das Paradigma der Disziplinierung durch das Paradigma der Leistung bzw. das Positivschema des Könnens ersetzt, denn ab einem gewissen Produktionsniveau wirkt die Negativität des Verbots blockierend und verhindert eine weitere Steigerung. Die Positivität des Könnens ist viel effizienter als die Negativität des Sollens. So schaltet das gesellschaftlich Unbewusste vom Sollen aufs Können um. Das Leistungssubjekt ist schneller und produktiver als das Gehorsamssubjekt. Das Können macht das Sollen allerdings nicht rückgängig. Das Leistungssubjekt bleibt diszipliniert. Es hat das Disziplinarstadium hinter sich. Das Können steigert das Produktivitätsniveau, das durch die Disziplinartechnik, den Imperativ des Sollens, erzielt worden ist. Bezogen auf die Produktivitätssteigerung besteht zwischen dem Sollen und Können kein Bruch, sondern eine Kontinuität. (Byung-Chul Han, Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 2014, S. 20/21; Hervorhebung im Original)
An dieser Schnittstelle von der Disziplinar- zur Leistungsgesellschaft verortet der französische Soziologe Alain Ehrenberg („Das erschöpfte Selbst“) das Entstehen von Depressionen, eine Diagnose, mit der sich Han nicht zufrieden gibt, denn die Reduktion aufs Ökonomische empfindet er als verkürzt: „Ehrenberg zufolge breitet sich die Depression dort aus, wo die Gebote und Verbote der Disziplinargesellschaft der Eigenverantwortung und Initiative weichen. Krank macht in Wirklichkeit nicht das Übermaß an Verantwortung und Initiative, sondern der Imperativ der Leistung als neues Gebot der spätmodernen Arbeitsgesellschaft“ (Han, a.a.O., S. 22/23; Hervorhebung im Original). Darum sei, so Byung-Chul Han, die pathologische Landschaft des frühen 21. Jahrhunderts durch neuronale Erkrankungen wie Depression, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), Borderline-Persönlichkeitsstörung oder das Burnout-Syndrom bestimmt.
Das sind mahnende Worte an uns Leistungssubjekte. Darin steckt der Aufruf zu einem neuen Ungehorsam: nur das Nein-Sagen (inklusive Abschalten von Internet und Smartphone, letzteres ist laut Byung-Chul Han ein „Pornoapparat“) schafft Entkoppelung. Für mehr Leben, für mehr Kontemplation.
Kategorien:Philosophie, Soziales Handeln
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