Ein Schigebiet, irgendwo, vielleicht in den österreichischen Alpen. Ein Schitag, so wie viele in einem Winter. Der Andrang von Menschen wird von der Logistik der Bergbahnbetreiber gut bewältigt, der erste Weg führt zur Liftkasse, dann die Anstellschleifen zur ersten Aufstiegshilfe, die die Wartenden in Permanenz in Bewegung halten, den Menschenstrom fassen, lenken, kanalisieren. Die Kapazität der Gondelbahn bringt die Gipfelstürmer rasch hinaus aus dem Tal. Ab der Mittel- oder Bergstation sind ausreichend Beförderungsanlagen vorhanden, um tausenden Menschen Schifahrvergnügen zu ermöglichen. Alle Pisten sind bestens präpariert, unter dem Naturschnee hat sich in ersten Frostnächten durch Wasserfontänen und Beschneiung eine harte geschlossene Kunstschnee- bzw. -eisdecke erzeugen lassen. Neuschnee wird durch Pistengeräte beiseitegeschoben.
Der Breitensport sucht und bekommt deckungsgleiche Bedingungen wie professioneller Spitzenschisport. Das spiegelt sich auch im Material des Sportlers. Taillierte Carving-Schier sind auf Pisten im beschriebenen Zustand leicht zu fahren. Allein Gewichtsverlagerung und Druck auf die Kanten lassen Schwünge und Höchstgeschwindigkeiten zu. Überspitzt gesagt, was muss ein Schifahrer heute noch „können“? Abschwingen, also seine rasanter werden Fahrt wiederum zum Stillstand zu bringen: Das wäre von Vorteil. Aber sonst? Was ist mit Fahrtechnik? Das Material nimmt hier Anforderungen, Übung, Training als Last von den Schultern des Sportlers. Das Leben in der sportlichen Herausforderung, Schi zu fahren, wird leicht, ganz leicht, zu leicht gemacht. Wenn etwas passiert, sind die Folgen schwerwiegender als früher, immer öfter auch tödlich. Die Geschwindigkeiten, die im sogenannten Publikumsschilauf gefahren werden, sind eindeutig zu hoch.
Sport entleert sich also jener Werte, die aus Anstrengung den Menschen fordern. Sport verwandelt sich zu einem Erlebnis in der Breite jenes Konsumismus, den wir Menschen heute leben (können). Der Grazer Soziologe Manfred Prisching schrieb bereits 2006 in „Die zweidimensionale Gesellschaft“:
Die moderne Erlebnisgesellschaft überbrückt die drohende Langeweile durch die Suche nach Erlebnissen, in denen man spüren kann, dass sich im eigenen Innenleben etwas tut, dass man noch lebt. Es ist ein „süchtiges“ Dasein, ein In-der-Welt-Stehen, das sich in jeder einzelnen Minute seiner Existenz vergewissern muss.
Im Konsumismus greift der Kauf zuerst nach dem, was eigentlich bereits gesättigt ist. Bedürfnisse nach materiellen Gütern werden überbefriedigt. Irgendwann macht das keinen Spaß mehr. Nun müssen Ambiente und Erlebnisse „sinnliche Erfahrungen, emotionale Anstösse, Tagträume“ liefern. „Man sucht das Arrangement von Situationen, in denen man etwas fühlt, in denen man sich in Resonanz verspürt“, so Prisching. Auf den präparierten Schipisten bleibt dies nicht nur reflexiv auf einen selbst bezogen. „Es sind temporär-unverbindliche Vergemeinschaftungen, Massenphänomene, die in einer ansonsten „uneingebetteten“ Gesellschaft die einzig möglichen sind: Gemeinschaft als action, als zeitlich begrenztes Erlebnis, ohne weitere Verbindlichkeit, die doch eine marktgerechte Flexibilität behindern würde.“
Vor zehn Jahren bewegte sich am Rand der Piste vielleicht ein Tourenschigeher mit aufgezogenen Fellen Schritt für Schritt den Berg hinauf. Damals spielte er im breiten Erlebnis-Konsumismus seine Rolle, die des einsamen Rebellen. Mittlerweile haben viele zu ihm aufgeschlossen und eine neue unverbindliche Vergemeinschaftung erzeugt. Die Spirale dreht sich also weiter. Das führt zu Konflikten, braucht Regeln (Zugangskapazitäten), es entstehen neue Geschäftsfelder (Tageskarten für Tourenschigeher bezüglich Pistenbenutzung) und Phänomene (Sperrung von Schigebieten wegen Überlastung schon vor Mittag). Bislang sprachen wir nur von Overtourism, wenn im Sommer Touristen bestimmte Destinationen (Barcelona, Dubrovnik, Salzburg, Venedig) stürmten. Overtourism darf und muss viel größer gedacht und diskutiert werden.
Kategorien:Soziales Handeln, Sport