Nach Jahren berechtigter Abstinenz zog es mich am gestrigen Samstagabend wieder in den Donaupark von Linz (Oberösterreich) zur „Klangwolke“. 1979 unter den Vorzeichen breiter Bürgerbeteiligung ins Leben gerufen, hat dieser Event eine mehr als bewegte Geschichte. Bei der Premiere übertrug man eine Symphonie von Anton Bruckner aus dem Konzertsaal in den Park und via Radio und alle in der Stadt waren aufgefordert, den Klang zu verbreiten, indem sie ihre eingeschalteten Radiogeräte in die geöffneten Fenster stellten. Von dieser Begeisterung ließ ich, damals zwölf Jahre alt, mich anstecken. Ich platzierte meinen Radiorekorder ins geöffnete Jugendzimmerfenster und beschallte den davorliegenden Balkon, die Wiese und unseren „Fußballkäfig“ (einen eingezäunten Betonplatz) mit Bruckner.
In den vielen Jahren seither gab es fallweise glückende Momente, das Open-Air auch zu visualisieren, je nach technischem Entwicklungsstand, von herumtanzenden Laserstrahlen bis zu Projektionen, Projektionen und wieder Projektionen. Der weite Raum, bestimmt durch die Donau, ist inszenatorisch schwer zu fassen. Wiederholt blieb nach schalen Bildern ein Trösten tausender Schaulustiger durch ein abschließendes Feuerwerk. Vom „ewigen Scheitern“ berichtete darum ein profunder Kenner der Klangwolkengeschichte im vergangenen Jahr. Aus der Ferne des Beobachtens nickte ich zustimmend und war einmal mehr mit mir selbst zufrieden, mich nicht (mehr) hinbewegt zu haben.

„Menschennetz“ im Finale von „PAX: Tradition=Revolution“, der Klangwolke 2018 im Donaupark von Linz (Oberösterreich)
Dann kam die Ansage für die Klangwolke 2018: „La Fura dels Baus“, das Performancekollektiv aus Katalonien, werde mit den ihnen eigenen ästhetischen Mitteln Musik von Anton Bruckner und Zeitgenossen bebildern. Und weil wir Menschen ja grundsätzlich eine Leidenschaft dafür haben, nicht nur Bilder allein zu sehen, sondern sie erzählerisch verpackt zu bekommen, bekam die Geschichte einerseits einen Titel („PAX: Tradition = Revolution“) und andererseits einen Inhalt: die ganze Menschheitsgeschichte. Große Räume schreien anscheinend nach dem größten aller Themen. Und mit dem Anspruchssuperlativ zugleich nach einer Fortsetzung des Scheiterns?
Ich ging also nur wegen „La Fura dels Baus“ hin. In den achtziger Jahren sah ich die Performance der Katalanen erstmals im Rahmen der Wiener Festwochen. Da gingen Leute die Wände hoch, rannten Künstler mit angeworfenen Motorsägen durch die Zuschauermenge, die Musik war laut, schräg, Heavy Metal eine euphemistische Bezeichnung dafür, kurzum: was abging, ging durch Hirn, Herz, Mark und Bein. Die Blütezeit performativer Bühnenhappenings! Wie machen sie es dreißig Jahre später? In Treue zur eigenen Formensprache, die wiederum ganz und gar in der katalonischen Kultur verwurzelt ist: Im Finale des Szenenverlaufs, der (no na ned) zeigt, dass Revolution (Krieg) immer ein Begleiter der Entwicklungsstufen der Menschheit gewesen ist, erreicht die Inszenierung ihren Höhepunkt, wenn an die sechzig weiß gekleidete Frauen und Männer in einem „Menschennetz“ an einer Kranvorrichtung in die Höhe gezogen werden und sodann ihre Choreographie umsetzen. Darin bildet sich das Brauchtum der Castells ab, jener Menschenpyramiden, die in Katalonien traditionell bei Festen gebildet werden, natürlich in einer technisch weiterentwickelten Form (Klettergurte, Seilsicherungen, LED-Einhörner bringen die Köpfe der Akrobaten zum Leuchten). Das treibende Moment der Inszenierung – die Klangwolke ist seit jeher eingebettet in das Festival Ars Electronica in Linz, welches sich der nahen Zukunftsbestimmung unserer Weiterentwicklung durch Digitalisierung widmet – sind bei „La Fura dels Baus“ die Menschen.
Wenn die Katalanen meterhohe Figuren, etwa eine Frau oder ein Pferd, in Bewegung setzen, dann verschwinden zwar die die Tonnenlast bewegenden Kranfahrzeuge aus der Wahrnehmung des Betrachters, nicht aber die Statistenschar, die durch Zug- und Nachlassbewegung an Seilen die Beine der Frau oder des Pferds in die Illusion ihrer natürlichen Gehbewegung versetzen. Auch hier erkennt man die traditionelle Wurzel, von Umzügen mit Figuren, wie sie auch in Österreich gepflegt werden, etwa mit Samson im Lungau.
Navigare necesse est, vivere non est necesse. Der alte Seemannspruch von der Notwendigkeit zur See zu fahren, die über der zu leben steht, als Motto für diese Klangwolke gewählt, macht die Akteure zu Matrosen am „großen Inszenierungsschiff“, das Carlus Padrissa mit seinem „La Fura dels Baus“-Team eine knappe Stunde erfolgreich durch den zentralen Donauraum manövrierte. Die auf den ersten Blick problematisch wirkende Gleichsetzung im Titel von Tradition und Revolution erwirbt sich gerade in den gewählten szenischen Mitteln ihre Berechtigung, verbunden vielleicht mit dem Aspekt, dass eine poetisch stimulierte Berührung der Rezipienten wohl doch eher aus der analogen Welt kommt. Über eine eigene App namens „Kalliope“ (Muse des Epos und der Elegie) hätten Anweisungen ans Publikum dieses zur Interaktion anregen sollen. Mehr als einen kollektiven Schrei von 110.000, die gekommen waren, und einen unvermittelt einsetzenden Applaus (beides vor Beginn) vernahm ich nicht als Ergebnis dessen, was hier digital als Regieanweisungen ausgegeben worden sein sollte.
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