Der Pole liebt die Berge. Problem eins: nur die eigenen. Problem zwei: Es gibt kaum Berge in Polen. Problem drei: Es gibt sehr viele Polen. In logischer Konsequenz geht die polnische Seite der Tatra, des kleinsten Hochgebirge der Welt, gelegen in den Westkarpaten, an Bergtouristen über.
Ausgangspunkt ist Zakopane, die Stadt mit 33.000 Einwohnern erlebt jährlich einen Touristenzustrom von drei bis vier Millionen. Weithin kennt man sie zumindest vom Schisprungweltcup. Dabei ist sie zur Gänze eine Sehenswürdigkeit wegen der ortspezifischen Holzbauarchitektur, die Stanislaw Witkiewiecz (1851-1915) inspiriert von den „Goralen“ (gora, polnisch für Berg, eine bestimmte Gruppe Westslawen mit eigener Kultur und Sprache) entwickelt hat. Auch Neubauten halten sich an das Stilgebot mit der Dominanz des Giebels, Kirchen leugnen ihre Verwandtschaft zu skandinavischen Gotteshäusern, etwa wie in Borgund, nicht.
Wer von Zakopane aus auf die Tatra will, kann den Kamm bequem per Seilbahn erreichen. Die 60 Personen fassende Gondel will gut ausgebucht sein, ohne Reservierung im Internet geht fast gar nichts. Wer Berg- und Talfahrt bucht, bekommt für seinen Aufenthalt auf dem Kasprowy Wierch ein Zeitfenster von nur 90 Minuten. Bei Überschreitung verfällt die Rückfahrt. Sowohl die Tourismusverantwortlichen als auch die Seilbahnbetreiber sind mit diesem Mittel bemüht, die Menschenmasse vom Berg auch wieder hinunter zu bekommen, etwa die Gruppe Japaner, die hier Höhenluft schnuppert, oder ein Pärchen, er ihm Hochzeitsanzug mit schwarzen Lackschuhen, sie im weißen Brautkleid, bibbernd, über ihre Schultern hat sie eine Softshelljacke geworfen, ein Foto-Shooting, so viel ist klar, Begleitpersonen schleppen Equipment, das Brautpaar „rettet“ sich in die geheizte Bergstation. Denn um diese und die etwas höher danebenliegende Wetterstation hat sich um 17 Uhr binnen zehn Minuten eiskalter Nebel gelegt.
Den ganzen Tag über hauchte ein kalter Wind über den Tatra-Höhenweg, den Kamm, der mal breiter, mal schmäler zwei Länder trennt und vereint, im Norden Polen, im Süden die Slowakei. Viele Menschen tummeln sich auf diesem Weg, zweifelhaft ausgerüstet die meisten: Die neueste Mode im weiblichen Anteil dieser „Gipfelstürmer“ ist das Wandern in Gymnastikstretchhosen, sieht sexy aus, kann aber nur kalt sein, erst recht beim Schwitzen. Und dann war da noch der Junge, der wohl meinte, er liefe auf ein Basketballfeld ein statt auf den durch Natursteine gelegten Weg mit seinen drei Schlüsselstellen, sechs bis acht Meter hohe Felsnasen, die ohne Seilsicherung zu durchklettern sind. Viele stecken nur dabei das Smartphone kurz ein, von dem sie sonst bei ihrem Wandern kaum den Blick lassen können.
Es gibt aber auch jene (darunter mich), die sich der Meditation des Gehens auf den Berg hingeben, der Annäherung an Höhe, Natur, Landschaftsbild, Klima Schritt für Schritt. Der Start neben der Talstation, die sich die Verantwortlichen durch ein Fahrverbot frei vom Individualverkehr halten, nur Busse und Taxis bringen die Wanderer herzu, liegt knapp über 1.000 Meter Seehöhe. Hundert Meter höher findet sich im Wald eine Sommerresidenz des Albertinerordens, eine Einladung an die Ordensschwestern zum Rückzug in die Stille einer Einsiedelei, während zwei Gehminuten davor der Wandertourismus tobt.
An der Baumgrenze lädt eine Chata (Hütte) zur Stärkung ein, am besten mit den hausgemachten Pierogi gefüllt mit Heidelbeeren, wohl nicht aus der Region, denn das Pflücken und Naschen der blauen Beerenkügelchen ist seitens der Nationalparkleitung untersagt. Die Früchte gehören den Tieren. Ja, den Bären, es gibt sie auf der Tatra, Guide Andreas berichtete, dass im intensiven Getümmel auf dem Höhenweg vor einem Jahr eine Bärenmutter samt Kleinem auf nicht allzu viele Meter Distanz aufgetaucht sei, nach kurzer Orientierung aber das Weite gesucht habe. Zum Glück, der mütterliche Schutzinstinkt habe diese Begegnung nicht gerade ungefährlich gemacht.
Über eine Alm führt der Weg an die Flanke der Tatra heran. Die Herausforderung liegt in der steten Sichtbarkeit dessen, was zu bewältigen ist, Schritt für Schritt in steilen Serpentinen auf aus Steinen, manchmal auch Felsen gelegten Bändern hinauf auf den Höhenweg. Im Westen steht mit dem Giewont der einzige Berg, der im so katholischen Polen hier mit einem Gipfelkreuz markiert ist. Nach Osten zu führt das Schreiten am Kamm in ein Spiel zwischen Konzentration auf den Weg und das Innehalten für den weit ausschweifenden Blick in die slowakische Tatra. In rasch sich ändernden Witterungssituationen entsteht nahezu in jeder Minute ein neues Gesamtbild.
Knapp zehn Kilometer und exakt 1122 Höhenmeter lege ich an diesem Tag zu Fuß zurück. Ins Tal zurück geht´s mit der Seilbahn, mein Entlastungsbeitrag in Sachen Frequenz am Kasprowy Wierch.
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