Vor zehn Jahren hatte ich durch eine Woche „Ferien“ Ende April/Anfang Mai die Gelegenheit, Istanbul zu erkunden. Dies geschah im Rahmen des Vorprojekts „Nächste Haltestelle Europa“ der Schriftstellervereinigung „Autorenkreis Linz“ für ein für das Kulturhauptstadtjahr Linz (2009) gedachtes, leider nicht in die Realität gebrachtes Konzept zum Thema emigrierter Autoren. Sechs Autoren erkundeten ihre Zufluchtsorte in Europa. Ich also Istanbul.
An die fünf Kollegen richtete ich in einer von verschiedenen literarischen Transformationen meines „nosing around“ am Bosporus Eindrücke als „Postkartenprosa“. Heute, zehn Jahre danach, erlaube ich mir, das Postgeheimnis dieser Karten zu verletzen und die Texte zu veröffentlichen, heute die Folgen 3 bis 5, die ersten beiden erschienen hierorts vor einer Woche. Dass heute die Nachrichten an die drei Frauen (in der vergangenen Woche waren die Männer dran) publiziert werden, ist allein dem Alphabet der Nachnamen geschuldet:
Postkartenprosa #3 (Empfängerin: Elisabeth Vera Rathenböck)
Türkisch für Anfänger. „Bir simit, lütfen!“ Drei Worte und sie wirken. Der Mann am mobilen Verkaufsstand am Hafen von Eminonü gibt mir den Sesamring, ich bezahle 0,75 YTL (ca. 0,38 €). „Teşekkürler“, zuerst er, dann auch ich. Wechselseitiger Dank. Die Sprache ist handlungsarm, sie stellt das Verb an den Schluss. Das hält im Sprechen wie im Leben das Handeln an. Mehr Zeit, viel Muße und Lust am langsamen Genuss: türkisch „keyif“, bosnisch „čejf“, deutsch … (???). Übrigens: „Armut“, dieses Wort gibt es auch im Türkischen, es bedeutet „Birne“.
Postkartenprosa #4 (Empfängerin: Christine Roiter)
Işte böyle. Auf Tünel rätseln Abschleppdienst und Polizei, wie es wohl gehen könnte, drei mächtige Geländewagen abzuschleppen, die nicht nur einem Geschäftsmann die Auslage verparken, sondern: die alte Straßenbahn kommt nicht vorbei. Für die wohlhabende Elite Istanbuls ist die Istiklal nicht Einkaufsstraße, sondern Catwalk. In Balat sitzen zwei Mädchen in einem Hauseingang, eine sieben, die andere acht Jahre alt: „Hello!“ sagen sie und zeigen mit ihren Händen, ob man sie fotografieren will, für ein paar Lira, versteht sich von selbst. Im Goldenen Horn stehen ganze Wolken von Quallen. Keine Brücke, kein Uferstrich, wo nicht Fischer ihr Anglerglück versuchen.
Postkartenprosa #5 (Empfängerin: Christine Werner)
Die Schuhbürste fällt. Auf Höhe des bulgarischen Spitals eilt ein Schuhputzer an mir vorbei, in der Hand sein Arbeitsgerät. Eine kleine Fingerbewegung nur: da liegt die Bürste auch schon am Boden. In meinem Bauch: der Reflex, sie aufzuheben. In meinem Kopf: die Kontrolle des Bauchs. Ein paar Türken unweit unter einem Schatten spendenden Baum lachen. Der Schuhputzer unternimmt einen zweiten Versuch, er passiert mich, Finger, Bürste. Ich: Reflex, Bauch, Kopf. Interkulturelle Differenz, die bleibt. Seine Methode der Geschäftsanbahnung kommt nicht an.
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