Das kam dann Ende April 2008 so: weil die Stätte meines hauptberuflichen Wirkens, das Bundesschulzentrum in Steyr (Oberösterreich), in die Abschlussphase der zweieinhalbjährigen Erweiterung und Renovierung (bis dahin stets bei parallel aufrechterhaltenem Schulbetrieb) kam, wurden beide Schulen im Haus gebeten, doch ihre schulautonomen Tage in diese Woche zu legen. Fürs Baufinale brauchten die Professionisten ein schüler- und lehrerfreies Haus. Es entstand eine Woche „Ferien“.
Ich reiste in diesen Tagen nach Istanbul, einerseits um endlich (nach unzähligen Einladungen ihrerseits) Waltraud Perfler zu besuchen, meine ehemalige Lehrerin in Bildnerischer Erziehung, mit der mich nach meiner AHS-Zeit eine gemeinsame Theatervergangenheit verbunden hatte. Sie unterrichtete dazumals bereits lange Jahre am Österreichischen St.-Georgs-Kolleg in Istanbul und tut es nach einer Unterbrechung auch heute wieder.
Andererseits entwickelten und realisierten sechs Autoren (drei Frauen, drei Männer) der Schriftstellervereinigung „Autorenkreis Linz“ in diesem Frühjahr ein Vorformat für ein Projekt im nahenden Kulturhauptstadtjahr 2009 von Linz (Oberösterreich): „Nach uns kommen wir“ hätte dieses geheißen, es hätte die Emigration von Autoren simuliert. Der Konjunktiv steht für die Möglichkeit, die nicht Realität wurde. Denn die Intendanz des Kulturhauptstadtprogramms war zu kurzsichtig, eigentlich zu feig, es umzusetzen. Diese Emigration hätte sechs Autoren an verschiedene europäische Destinationen geführt, die Beteiligten erkundeten im Vorprojekt „Nächste Haltestelle Europa“ ihre Zufluchtsorte. Ich also Istanbul.
An die fünf Kollegen richtete ich in einer von verschiedenen literarischen Transformationen meines „nosing around“ am Bosporus Eindrücke als „Postkartenprosa“. Heute, zehn Jahre danach, erlaube ich mir, das Postgeheimnis dieser fünf Karten zu verletzen und die Texte zu veröffentlichen, zwei heute, drei in der nächsten Woche. Dass heute die Nachrichten an die beiden Männer und in der kommenden Woche somit die an die drei Frauen hier publiziert werden, ist allein dem Alphabet der Nachnamen geschuldet:
Postkartenprosa #1 (Empfänger: Sven Daubenmerkl)
Weckruf. Dem Stand der Sonne folgend ruft der Muezzin. Vögel zwitschern. Der Laut sich zurücknehmender Flugzeugturbinen im Landeanflug auf Atatürk Havalimani schneidet durch den Himmel. Ein mehrstöckiges Kreuzfahrtschiff liegt am Bosporus, sein Schiffshorn tutet. Ein Hubschrauber zieht seine knatternden Runden über Taksim, Galata und Beyoğlu, in Erfüllung einer Mission der Kontrolle. Aufmarschtag ganz ohne Feier, hier in Istanbul, am 1. Mai 2008, um 8 Uhr OESZ.
Postkartenprosa #2 (Empfänger: Thomas Duschlbauer)
Nordanatolische Verwerfungen. Südlich des Galatasaray Gymnasiums hat sich eine Gasse in Istanbul im Zuge von Stadtsanierung verwandelt: Fransiz Sokagí, die französische Gasse, bietet Bistro, Creperien, Patisserien, … ein bisschen Paris. Und das in einem Straßenzug, der früher Cezayir-Straße hieß (deutsch: algerische Straße). Rundum, in welchem Stadtteil auch immer, vor allem doch an den Rändern der ausfransenden kosmopolitischen Metropole schießen shopping malls hoch, mit Filialen amerikanischer und europäischer Konzerne. Der Kontinentgrenze zum Trotz, erst recht im asiatischen Teil.
Fortsetzung folgt am 6. Mai 2018.
Kategorien:Literatur, Raum & Architektur
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