Anatol, verloren in der Melancholie seines Räsonierens über sich und der Bindungsangst zum anderen Geschlecht, begegnet in Susanne Lietzows Interpretation des 1893 entstandenen, erst 1910 erstaufgeführten Einakter-Zyklus von Arthur Schnitzler am Landestheater Linz (Oberösterreich) schon zu Beginn in „Anatols Größenwahn“ seinem guten Freund Max. In der Lesart hier erscheint der mehr als ein Kumpel, als Seelenspiegel, und in besagtem Einstieg in den Abend als androgynes Wesen, eine Überblendung quasi jener beider Figuren (Max und eine Frau), die in jedem Einakter die Befindlichkeit des Herrn aus der Stadt (Wien) zu bestimmen suchen.

Christian Taubenheim (Max, links) und Andreas Patton (Anatol) in der Schnitzler-Inszenierung von Susanne Lietzow – Foto: Norbert Artner/Landestheater Linz
Schnitzlers Frühwerk ist Bote aus dem ausklingenden 19. Jahrhundert, Lietzow macht den Protagonisten gut zwanzig Jahre älter, als die literarische Vorlage vorgibt, ein Mittvierziger also, ein Mann in seinen besten Jahren, zugleich auch innerlich geplagt von der midlife-crisis. Andreas Patton gibt diesem eine stattliche Figur, ein markantes Profil und diese etwas verträumte Verlorenheit auf seiner Seelenreise, in der alle Frauenfiguren des Einakter-Zyklus durch ein und dieselbe Schauspielerin interpretiert werden. Als wäre sie die eine Gesuchte fürs Leben, die in den verschiedensten Varianten in Anatols Beziehungsleben ein- und austritt, lebt Martina Spitzer die Nuancen dieser Frauen auf der Bühne, abgeklärt etwa als Berta in „Anatols Größenwahn“, kokett naiv als Cora in der „Frage ans Schicksal“, als Frau von Welt die Gabriele in den „Weihnachtseinkäufen“ oder die Balletttänzerin Annie im „Abschiedssouper“ als herrliche komödiantische Studie.
Dass und wie die Inszenierung mit der zweiten Figur in dieser Ménage-à-trois, dem Freund Max, darauf zu antworten weiß, liegt auch in all dem, was Christian Taubenheim aus der in der literarischen Vorlage so unbestimmten Figur zu machen versteht. Denn, ja, dieser Freund bietet die stützende Schulter für die Melancholie der Titelfigur genauso, wie er diese schallend auslacht, wie er ihr in „Episode“ ihr Vertrauen unterläuft, da sich ihm (im Kimono, eine schöne Reverenz an das Faszinosum ferner Osten für die Gesellschaft in Wien rund um die Wende zum 20. Jahrhundert) Bianca zugeneigt zeigt, während Anatol weder Trennung noch Wiedersehen verschmerzt.
Susanne Lietzow stellt die Einakter in vier Kreissegmente, die reduziert Salonatmosphären pointieren (Ausstattung: Marie-Luise Lichtenthal). Ab und an geht zwischen den Einaktern Gilbert Handler mit seinen ihm so eigenen Arieninterpretationen durchs Szenenbild. Eine betörende Gesamtinterpretation!
Zu meinem Erleben muss ich noch berichten, wie ich zu sitzen gekommen bin: das Bühnenbild lässt zu, dass auf dem geschlossenen Orchestergraben drei Stuhlreihen zusätzlich und also vor der ersten Reihe Parterre angeboten werden. Ich kaufte mir die Karte (Vorstellung am 15.12.) für den mittleren Platz in der dritten Reihe, links außen in der ersten Reihe saß die Souffleuse. Sonst genoss kein Mensch diese privilegierte Nähe, um die Inszenierung zu erleben. Hinter mir dann das andere Publikum, dessen Reaktionen ich natürlich mitbekam, sodass ich nicht vergaß, dass „Anatol“ nicht nur für mich gespielt wurde, obwohl mein Zusehen mir genau diesen Eindruck verschaffte. Auch deswegen ein großartiger Theaterabend!
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