Viel wird über die sportliche Geste von Matthew Rees berichtet und gesprochen, der sein eigenes Rennen beim London Marathon 2017 (am vergangenen Sonntag) abstellte, um sich um einen vollkommen erschöpften Läufer zu kümmern. Wer dazu in YouTube recherchiert, sieht verschiedene Perspektiven des Ereignisses. Es dauert entsetzlich lange, bis sich einer des Manns mit den weichen Beinen annimmt. Streckenposten? Sanitäter? Sie bleiben untätig oder im Hintergrund. Erst als Rees durch seine Intervention den Bann durchbrochen hat, bietet ein zweiter Läufer kurz seine Hilfe an, sie wird – interpretiere ich aus den kleinen Gesten – als nicht notwendig erachtet. Dann erst kommt jemand vom Organisationsteam dazu und sie überqueren zu dritt die Ziellinie.
In Psychologie und Soziologie spricht man in diesem Zusammenhang von „Verantwortungsdiffusion“ oder auch dem „Kitty-Genovese-Syndrom“. Am 13. März 1964 wurde Kitty Genovese in New York ermordet. Die Berichterstattung in der New York Times löste zahlreiche sozialpsychologische Studien aus. Das Opfer gab den Erkenntnissen seinen Namen. Das „Genovese-Syndrom“ bezeichnet, wenn bei Präsenz einer Anzahl von Zeugen keines dieser Individuen ins helfende Handeln findet. Im Fall von Kitty Genovese waren es 38 Personen, die mitbekamen, dass die 28-jährige Frau überfallen, missbraucht und tödlich verletzt worden war. Niemand intervenierte, um ihr das Leben zu retten.
Dieses auch „bystander-effect“ (Zuschauereffekt) genannte Phänomen lässt vier verschiedene Erklärungen zu:
- Beobachtende Menschen können das Gefahrenpotenzial der Situation nicht einschätzen und fürchten die Blamage, sollte die Person die Hilfe zurückweisen, falls diese selbst ihre Lage für nicht bedrohlich einschätzt.
- Je größer die Gruppe der Beobachter ist, umso rascher entkräftet sich der Status von Not, da niemand aus der Gruppe eine solche erkennt und dementsprechend handelt.
- In der Beobachtergruppe nimmt die Verantwortung jedes einzelnen rapide ab. Der Druck zur Intervention wird unausgesprochen auf den Nächsten übertragen, nur denkt dieser in der Situation gerade exakt in gleicher Weise.
- Wer um Hilfe gebeten wird, fühlt sich gezwungen. Dazu mischt sich Unsicherheit, ob man in der Lage ist, die richtige Hilfe zu leisten.
Diese „bystander-effects“ werden in exakt jenem Moment überwunden, wenn eine Person tätig wird. Dann werden die Zeugen kooperativ, siehe den zweiten Läufer, kurz darauf den Helfer vom Organisationskomitee des Marathons. Für dieses notwendige Hinsehen und Handeln statuierte Matthew Rees 200 Meter vorm Ziel des London Marathons auf The Mall ein Exempel. So ein medial multipliziertes Ereignis wirkt darum wie eine Auffrischung: Möge es, wem auch immer von uns, in einer vergleichbaren Situation helfen, sich aus der Lähmung der bystander-effects zu befreien!
Kategorien:Soziales Handeln, Sport
Schlimm, dass es so lange gedauert hat, bist sich jemand um den Mann gekümmert hat. Aber ganz im ernst: man hätte ihn eigentlich aus den Rennen nehmen und ärztlich versorgen müssen, anstatt ihn weiter anzufeuern.
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Ja, da stimme ich absolut zu. Ich verstehe ja auch nicht, warum der Guide mit der neongelben Jacke (gleich am Beginn des Videos) den Läufer zwar quasi abschottet, aber sonst nichts tut.
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