Soziales Handeln

Wir nörgeln gern auf hohem Niveau

Den Begriff Anspruchsinflation lernte ich so kennen: Ich saß im Herbst beim Zahnarzt meines Vertrauens, zweimal knapp hintereinander, einmal Kontrolle, einmal Mundhygiene. (Warum dies nicht mehr an einem Termin erledigt werden darf, habe ich hier an anderer Stelle schon einmal thematisiert.) Die Wartezeiten sind sehr kurz, weil das Ordinationsmanagement tadellos funktioniert. Darum griff ich auch zweimal für jeweils nur kurze Zeit in den Stapel des Lesbaren zum gleichen Heft, einer Ausgabe der sehr empfehlenswerten Zeitschrift „Der Pragmaticus“ (Juli 2023), „Alles wird gut!“ hieß ihr Sommer-Thema und darin ließ die Redaktion den deutschen Soziologen Martin Schröder schreiben, dass wir gegenwärtig in der besten aller Zeiten leben, auch wenn wir uns das so nicht eingestehen wollen.

Schröder argumentiert mit empirischen Daten. Nörgeln auf hohem Niveau und die Leidenschaft an allem Negativen, so wie uns das die Medien auch tagtäglich verkaufen, vermiesen uns Leben, Alltag, Laune. Mir sagte der Aufsatz so sehr zu, dass ich mich nach Literatur von Martin Schröder umschaute und diese auch fand: „Warum es uns noch nie so gut ging und wir trotzdem ständig von Krisen reden“, ich zog das Buch für meine Lektüre via Medimops (wunderbarer Sekundärbuchmarkt!) an Land. Denn 2017 erschienen ist es von der verarbeiteten Datenlage her natürlich schon etwas sehr angestaubt.

Mir ging es auch nicht darum, was sich wie in welchen Daten nachgewiesen aussagen oder beweisen ließ. Mir ging es um die Art der Argumentation des Herrn Schröder, um seinen Zugang. Ich (bin Fachkollege und) suche dann natürlich auch gern in einer Theorie mögliche Angriffspunkte für einen wissenschaftlichen Diskurs, denke mich in die Argumentationslinie hinein oder entwickle Fragen, die die jeweilige Theorie in eine Art Elchtest schicken können.

Bei Martin Schröder blieb neben der geradezu wohltuenden Abfuhr mit all dem Pessimismus nicht nur übrig, dass der faktenorientierte Mensch den Optimismus findet und damit auch in Zeiten der immerzu geförderten Verschwommenheit von Sachverhalten (andere sagen „Fake“ dazu) Recht behält. Schon lange bevor bzw. seit uns der Inflationsbegriff nur so um die Ohren flog bzw. fliegt, brachte Schröder einen anderen ins Treffen, den der Anspruchsinflation. Damit meint er eine immens gesteigerte Erwartung an Verbesserung all unserer Bedürfnisse in allen gesellschaftlichen Teilbereichen. An ihr bemessen finden wir dann unsere Lebenslagen nie als gut genug.

Jetzt, da vielleicht sogar in Österreich (viel zu spät) das Gespenst der (wirtschaftlichen) Inflation langsam zu entschwinden beginnt, würde sich Platz für den Diskurs von Anspruchsinflation schaffen lassen. Wir könnten uns mit verschiedenen Aspekten des Themas auseinandersetzen, etwa mit dem Phänomen eines bereits gegebenen Anspruchs, (leider nicht allein) von der Wirtschaftskammer in einer Werbekampagne bereits aufgegriffen, und zwar von „Gleichheit“ zwischen Einkommensverhältnissen aus Erwerbstätigkeit und (nur) aus Sozialleistungen des Staats. Der deutsche Kabarettist Dieter Nuhr sagte dazu nicht nur bezogen auf sein Heimatland, sondern auch genauso für uns älplerische Nachbarn passend: „Viele Menschen gehen bei uns arbeiten, weil sie glauben, sie hätten dann mehr als die, die das nicht tun. Wie naiv!“ (Nuhr 2023 Der Jahresrückblick, Das Erste, 21.12.2023, ab 8:40min, www.ardmediathek.de, abgerufen am 2.3.2024).

Darin liegt eine in all ihren Konsequenzen noch gar nicht absehbare Krise, mit Tendenz zu einem gefährlichen sozialen Flächenbrand. Erste Flammen schlagen schon hoch. Denn dieses Thema wird ideologisch instrumentalisiert, natürlich von jenen, von denen wir es erwarten: Sie plakatierten es bereits zur Arbeiterkammerwahl, die in diesen Tagen läuft. Wir werden es im Nationalratswahlkampf wiederfinden, als Stimmen- und Stimmungsmacher. Es gehört diskutiert, zweifelsohne, auf Sachebene, dringend. Erwerbstätigkeit muss sich mehr lohnen. Kippt diese anstehende Diskussion in Polemik, wird das unsere Gesellschaft ein weiteres Mal gefährlich spalten.

Foto: Pexels/Free Photo Library

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