Ich schätze meine Tageszeitung. Ich habe sie seit Jahren abonniert. Sie bringt Qualitätsjournalismus, der Fakten aufbereitet, Zusammenhänge darstellt, Hintergründe ausleuchtet, in strikter Trennung von Bericht und Meinung. Dank fleißiger Mitarbeiter des Vertriebs besteht das Service in der Zustellung, dass die Zeitung jeden Morgen vor der Wohnungstür liegt, nur nicht am vergangenen Samstag.
Ich kenne den Mann, der in meiner Wohngegend als Nahversorger mit tagesaktueller Lese-Informationsware unterwegs ist. Er ist einer, der seine Runden dreht, wenn sich der schwarze Mantel der Nacht zu heben beginnt, bei jedem Wetter, zu jeder Jahreszeit. Ich nenne ihn B..
Was ist B. an diesem Samstagmorgen widerfahren? Ich gehe hinunter zu den Postkästen, jenen die nach EU-Konformitätsregeln überall vor Jahren montiert werden mussten, dem Liberalismus des Postzustellmarkts offen, was heißt: Jede und jeder muss durch eine Klappe eine Sendung einwerfen können. An diesem Samstag steckt meine Tageszeitung im Fach, sie ragt aus seinem Klappen-Maul heraus.
Meine Zufriedenheit über den reichen Lesestoff fürs Wochenende ließ nicht außer Acht, dass das untere Fünftel des Titelblatts gut durchfeuchtet worden war, anscheinend Witterungsspuren von der letzten Etappe der Reise aus der Druckerei zu mir. Ich legte mir die Zeitung zum Frühstück auf dem Esstisch zurecht. Und begann zu riechen, was von ihr ausging. In den gedämpften Geruch nach Druckerschwärze mischte sich ein blumiger Duft, der die Raumatmosphäre zu erobern begann. Einbildung? Der olfaktorische Sinn ist einer, der keine rationalen Schranken des Gehirns kennt. Meine Nase nimmt die Fährte auf und nähert sich der vermeintlichen Quelle. Eingesogen kommt es nicht nur zum Beweis. Die steigende Intensität des Blumigen verwandelt sich in eine Süße. Sie beflügelt die Phantasie. Was ist B. geschehen? Hat er selbst zugestellt? Musste er aus Krankheitsgründen den verlässlichen Takt und Brauch der Hinterlegung des Lesestoffs sein lassen? Wer übernahm? Vergoss dabei gewollt – oder nicht – das hochkonzentrierte Duftwasser, ein verschüttetes Fläschchen, ein zerbrochener Flakon?
Die Nachrichten, die das Blatt an diesem Samstag zur Lektüre serviert, sind aus der Kategorie des großen Schreckens. Am Tag drei dominieren Lagebericht, die Beschreibung der politischen Situation und die Kommentierung durch berufene Köpfe zu all dem, was Russland mit der Invasion in die Ukraine am Donnerstag zuvor begonnen hat. Ich lese, der Duft versucht, sich über den Sachgehalt der Information zu erheben, ihn zu vernebeln. Muss ich da Opfer eines Jean-Baptiste Grenouille der Presse werden, der jenem Helden aus Patrick Süskinds „Das Parfum“ gleich eine Essenz kreiert hat, die das schlecht Erträgliche der Realität in einer Form von hypnotisierender Wirkung verträglich machen soll? Meine Gedankenreise entführt mich in eine solche Dystopie.
Die Realität der Zeitungslektüre muss schlussendlich so aussehen, dass der Pack aus mehreren Büchern, wie die Teile der Zeitung in der Fachsprache heißen, zwischen den Lese-Phasen seinen Platz am Balkon und zu guter Letzt vorzeitig im Altpapiercontainer findet.
Ich hoffe, B. geht es bald wieder gut. Takt und Brauch der Zeitungszustellung setzen wieder ein. Regen darf das Blatt auch gerne durchfeuchten. Mit einer puren Duftnote Druckerschwärze in meiner Nase bin ich aber bei der Lektüre schon vollends zufrieden.
Kategorien:Medien