Für den Lebensraum der Elitengesellschaft, die Alain Gsponer in seiner Filmfassung von „Jugend ohne Gott“ nach Ödön von Horváths 1937 erschienenem Roman zeigt, haben wir seit Suzanne Collins einen Namen. In dieser Art von Panem findet sich die in Leistungsbringer und -empfänger selektierte Gesellschaft in Sektoren getrennt vor. Alpha steht für die Leistungsträger. Um die Besten unter ihnen zu rekrutieren, rücken Schüler in ein Camp ein. Sie müssen sich dort aller elektronischer Geräte entledigen. Für wen dies oder auch Gefühle ein Problem seien, hält die als Führerperson inszenierte leitende Psychologin Medikamentierung bereit. Ein Armband zur Echtzeitübermittlung biologischer Daten bleibt, zur Ortung im Notfall wird jeder und jedem ein Chip zwischen Daumen und Zeigefinger implantiert.
Es geht um ein Assessment für die Zulassung zur privaten Rowald-Universität, staatliche Hochschulbildung gilt längst nichts mehr, also um Stipendien. Das Wort Punkteabzug wird am meisten gefürchtet. Gsponer erzählt in der beeindruckenden Drehbuchadaption des Horváth-Romans durch Alex Buresch und Matthias Pacht die Geschichte aus drei Perspektiven, die fließend ineinander übergehen und den Zuschauer darin fordern, sich im Zeit-Raum-Gefüge neu zu orientieren. Die erste Handlungsschleife gehört der strebsamen Nadesh (Alicia von Rittberg), die ein Auge auf Zacharias, kurz: Zach (zweite Perspektive) geworfen hat, der noch dazu ein geheimnisvolles Tagebuch schreibt, um den Suizid seines Vaters zu bewältigen. Die dritte begleitet den Lehrer (Fahri Yardim).
Zach (Jannis Niewöhner) kommt in Kontakt mit Illegalen, die ins Camp eindringen, unter ihnen befindet sich Ewa (Emilia Schüle).Seine Zuneigung zu ihr und die daraus entstehende Liebesgeschichte hat den Verleih wohl dazu veranlasst, den Film mit dem entbehrlichen Zusatztitel „Ein Film über die Liebe“ in die Kinos und in die einschlägigen Filmmagazine darum in die Rubrik Liebesfilme zu bringen. Vollkommen falsche Schublade! Die gezeichnete Dystopie ist der Realität näher, als man meinen wollte: harte Leistungsorientierung bei strenger Selektion, dirigistisches Entscheiden über und Verteilen von Lebenschancen, Utilitarismus, Gefühlskälte! Der Film zeigt das Zeitalter der Fische heute.
Horváth sah das „ohne Gott“ im aufkommenden Nationalsozialismus, Gsponer seziert die totalitären Spuren unserer Gegenwart, wie sie sich leise vergesellschaftet haben. Wer ins Kino geht, tut gut daran, Horváths Roman gelesen zu haben. Die Lektüre erschließt dem Zuschauer eine analytische Tiefe, die einen den Atem anhalten und darum urteilen lässt: was für eine exzellente Übersetzung eines vor 80 Jahren erschienenen Romans in einen Film!