Theater

Unser Credo: die Welt retten

Spitzt die Ohren! Das scheint uns Musiker Joachim Werner gleich zu Beginn mit einem Kostümteil an sich bedeuten zu wollen. Sein so gestalteter Gruß gilt am Samstag der vergangenen Woche in den Kammerspielen des Landestheaters Linz (Oberösterreich) zuerst dem Publikum im Parterre, dann dem am Balkon. Dazu muss allerdings angemerkt werden, dass zur Premiere von „Worst Case/Dunkelziffer“ von Kathrin Röggla der Zuspruch beschämend bescheiden ausfiel. Abgefedert wurde dies nur durch den Umstand, dass viele aus dem Schauspielensemble freundlicherweise das Publikum verstärkten. Wie ignorant verhält sich das (ausgebliebene Premieren-)Publikum zu Bühnenkunst in all ihren wunderbar starken Facetten!

Kathrin Röggla versteht es seit Jahrzehnten, die scharfen Kanten unserer Gesellschaft durch Abfeilen mit Wörtern, Sätzen, Texten fühlbar zu machen. Dafür hört sie jenen sehr gut zu, die an diesen Kanten stehen, sich an diesen verletzen, Opfer unseres Konsumismus etwa. Röggla gibt ihnen Stimme(n). Literatur ist bei Röggla Dichtung im Sinn von Verdichtung, eine Untersuchung der Sachlage durch sprachliches Modifizieren, von der Wirklichkeit in die Möglichkeit und zurück, sie konjugiert die Verhältnisse. So wie im Choral, mit dem das sechsköpfige Ensemble, allesamt zu Beginn Heilsarmeeschwestern in einer Bühne wie einem Hörsaal an einem Pathologie-Institut, den Abend eröffnet: „credo, credis, credit, credimus, creditis, credunt“. Ich glaube, du glaubst usw. Credit? Am Sonntag nach der Premiere ringt man in der Schweiz ums Überleben der „Credit Suisse“, strukturell schwach schon seit Jahren. Dennoch war immer alles möglich, Bankwesen. Löcher stopfen, wie es im Theaterabend einmal heißt. Kredit, ja. Kreditwürdig? Nein. Aber es geht dann schon. Die Fallen sind aufgestellt, rasch schnappen sie zu, Zinsen, Tilgungen. Vom Leben im Abstottern von Raten hört man in der Verschränkung von diesen zwei (eigentlich schon etwas in die Jahre gekommenen) Texten der Salzburger Autorin. Die Bühnenfassung durch Regisseurin Katka Schroth frischt beide auf. Auf der Backstage-Seite der Halbarena der Wissenschaft erörtern zwei Aktivistinnen das aktuelle (selbstverursachte) Leiden von uns allen an Welt, an der Rache der Natur. Klimawandel. Da fällt dann, als eines unter vielen Komposita, die die Perversionen des von Menschenhand Gemachten sprachlich greifbar zu machen versuchen, das beschönigende Wort von den „Klimaoptimisten“.

Aus dem Radio quäkte an eben diesem Samstag der vorvergangenen Woche ein vormaliger Landesrat im Bundesland Niederösterreich, der zurzeit wohl verhaltensauffälligste der beruflichen Spezies Politiker in Österreich. Einst kasernierte er jugendliche Asylwerbende hinter Stacheldraht, zuletzt überschüttete er Jugendliche migrantischer Herkunft an einem Wiener Gymnasium mit Schimpf und Schande. Politik ist anno 2023 erst recht und weiterhin so, dass die unmöglichsten Gestalten hinauf- statt aus dem System hinausfallen. Denn nun sitzt er als zweiter Präsident dem niederösterreichischen Landtag vor, freut sich darüber und über mehr Zeit für Familie, Landsleute und seine Heimatgemeinde, wo er auch noch das Bürgermeisteramt anstrebe. Noch ein Satz aus dem Mund des besonders simpel Gestrickten: Er finde die neue Landesregierungspolitik nun gut, nichts „Grünes“ mehr im Programm, „freie Autofahrt für alle“; ein Klimaoptimist, einer von so vielen.

Man muss gegen solchen stumpfen Blödsinn der Wirklichkeit aufstehen und antreten. Im Landestheater Linz passiert das. Denn die Visualisierung, das Zur-Sprache-Bringen in den Texten von Kathrin Röggla erscheint wie eine Wiederkehr des Agitprop-Theaters, mit vorzüglichen szenischen Mitteln: Regisseurin Schroth hat und lebt die Gnade, dazu szenisches Spiel zu arrangieren, Sung-A Kim entwickelt in den Kostümen ihre eigene interpretierende Ebene. Bühne (Hartmut Meyer) und Musik (Joachim Werner) geben den Rahmen, und zwar für sechs, die immense Textkonvolute an und über die Rampe bringen, über die hinaus ins Zuschauerhaus erzählt, angeklagt, verhandelt, konsequent zu Ende gedacht wird. Endlich gibt Theater wieder ein starkes gesellschaftspolitisches Statement ab. Katharina Hofmann, Theresa Palfi, Cecilia Pérez, Nataya Sam, Rebecca Hammermüller und Alexander Hettele bringen alles ins Spiel, als ginge es darum, die Welt zu retten. Nein, es ginge nicht nur darum. Es geht darum.

Allein deswegen müssen sich die Plätze der Kammerspiele in den Reprise-Vorstellungen bis zum 7. Juli 2023 bis auf den letzten Platz füllen. Ich gehe noch einmal hin. Wer ist dabei?

Foto: Opening von „Worst Case/Dunkelziffer“ von Kathrin Röggla am Landestheater Linz – Herwig Prammer/Landestheater Linz

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