Unserem Naturkundeführer und Busfahrer Grzegorz zerrinnt sein Mund zu einem breiten Grinsen. Wir stehen am Fluss Bug in Polens Osten, an einer Stelle, an der das fließende Gewässer wenige Kilometer südlich die Grenze zu Weißrussland zieht. Grzegorz erzählt von einem Telefonat mit einem Kollegen, der eine Gruppe zur Biber-Beobachtung begleitet hat. Die lag für die notwendige Ruhe zum Verhaltensstudium der Nager flach am Boden, bedeckt von olivgrünen Pelerinen gegen das permanente Nieseln, Feldstecher vor den Augen. Anrainern kam diese Aktion verdächtig vor. Alsbald waren die Biber-Forscher von dreißig polnischen Polizisten umringt, die die vermeintlich feindliche militärische Aktion als das enttarnten, was sie war: sanfter Naturtourismus in einem unglaublich schönen, weitgehend unberührten Naturraum. Er bildet die EU-Außengrenze und in diesen Tagen und Wochen wohl die heikelste Grenzzone in Osteuropa.
Einen Tag später sollten wir wandernd aus dem Wald kommend auf dem Weg zu unserem Bus an einer Polizeistreife vorbei. Mit eingeschaltetem Blaulicht lauert der Kia am Straßenrand, ein Polizist am Steuer, ein zweiter steht hinter dem Wagen. Er kommt auf mich zu und spricht mich auf Polnisch an. In dieser Sprache schaffe ich nicht mehr als zu grüßen, „Mahlzeit!“ zu wünschen und zu danken. Also: „Do you speak English?“ Er bejaht, entspannt sich sichtlich und sucht Ausflucht im Rat, wir als Wandergruppe mögen doch an der „right side of the street“ im Gänsemarsch gehen. Er meint „right“ wie richtig, deutet aber auf die rechte Straßenseite, meint aber die linke (das andere Rechts!), auf der wir auch unterwegs waren. Die Sorge um unsere Sicherheit im Straßenverkehr, der polnische Autofahrer drückt das Gaspedal sehr gerne bis zum Anschlag durch, ist berechtigt. Und hier nur vorgeschützt: Zuvor schon hatten sie unseren 20-Sitzer-Transferbus perlustriert, Kontrollen bei Pirschausflügen in der Morgendämmerung auf der Suche nach wild lebenden Wisenten folgten.
Denn es herrscht Nervosität an der Staatsgrenze. Am 1. September ging eine Situation an der polnisch-weißrussischen Grenze in eine nächste Eskalationsstufe. Bei Usnarz Górny, einem Dorf, immer noch eine Stunde 45 Minuten Fahrzeit von unserem Standort entfernt, sitzen seit einer Woche dreißig afghanische Flüchtlinge auf der weißrussischen Seite. Die Polen sichern ihre Grenze gegen den geplanten illegalen Übertritt. Die Aktion ist vom weißrussischen Präsidenten Alexandr Lukaschenko gesteuert. Er sagte dergleichen an und setzt Flüchtlinge aus dem Irak und Afghanistan gegen die Europäische Union ein. Litauen hat darum seine Grenze zu Weißrussland weitgehend dicht gemacht, dort sieht es aus wie ehemals am innerdeutschen Grenzverlauf, also kahlgeschlagene Lichtung, zweimal Stacheldrahtzaun, Wachtürme. Polen hat ähnliche Pläne und zwei Tage später wurden wir in unserem Bus auch zweimal von Militärlastkraftwagen mit Anhängern, darauf schweres Baugerät, überholt. Lukaschenko rächt sich für die EU-Sanktionen gegen sein Land als Fluchthelfer, nun also auch gegen Polen. Das kommt der regierenden PiS-Partei nicht ungelegen, hat also auch innenpolitische Brisanz. Denn die PiS verlor gegen die Opposition zuletzt in Sachen eines neuen Mediengesetzes. Die opinion polls spiegelten die Niederlage sofort, das Muskelspiel an der Grenze drehte für PiS wieder auf Zuspruch. Am 1. September greift der polnische Präsident Andrzej Duda dann zum Mittel des Ausnahmezustands an der Grenze. Die letzten drei Kilometer auf der polnischen Seite dürfen nur noch Anrainer und Sicherheitskräfte betreten. Das gilt zuerst nur für die Zone vor Usnarz Górny. Es zeichnet sich aber ab, dass es bald als durchgehende Lösung an der langen Grenze zu Belarus so gehalten wird. Am Donnerstag, 2. September, schaffen wir es darum noch zum Herzstück unserer Reise: Wir erkunden mit dem Fachmann vom Nationalpark Bialowieża – er macht das seit 1978 und sehr eindrucksvoll mit seinem Detailwissen über alle Bäume, Pflanzen und vor allem Pilze – jenen kleinen begehbaren Teil des letzten Urwalds von Europa. Polen hat nur den geringeren Anteil an ihm, der größere liegt in Weißrussland.
Einen Tag später, am Freitag, galt der Ausnahmezustand auch schon für den Bereich, den sich Naturliebhaber nicht entgehen lassen sollten, dann aber der politischen Spannungen wegen mussten. Nicht zuletzt erhält die Lage ihre Brisanz, weil in der vergangenen Woche die alle zwei Jahre anberaumte Herbstübung von russischen und weißrussischen Truppen in Belarus stattgefunden hat. In diesen Manövern wird geübt, wie man einen Feind aus dem Westen (Polen?) Paroli bietet. Unser Guide Marek erzählte uns, dass ein Strategiepapier für die Übung 2021 geleakt worden sei. Diesem zufolge war geplant, einen illegalen Grenzübertritt in die Europäische Union zu üben, konkret einen Kilometer auf litauisches Gebiet vorzudringen. Quasi soldatischer Orientierungsirrtum. Soll´s geben? Inszenierter Zufall als Strategie. Es scheint, als ob wir an manchen, gar nicht so fernen Orten in Europa wieder im Kalten Krieg sind.
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