Vorm Schauspielhaus des Landestheaters Linz (Oberösterreich) parkte am vorvergangenen Samstagabend, obwohl dort eigentlich nur ein Halten für Aus- oder Einsteigen gestattet ist, vor, während und nach der Premiere von Arthur Schnitzlers „Professor Bernhardi“ eine mondäne Limousine eines Bestattungsunternehmens, vulgo ein Leichenwagen. Mir erschien dies nach dreieinhalb Stunden weitgehend zähen, weil statischen Gesprächtheaters wie ein Sinnbild für ein literarisch freilich unbestritten großes österreichisches Theaterstück. Komödie wählte Schnitzler als Gattungsbegriff, in Linz entschied man sich für: Schauspiel. Wörtlich war davon wenig zu sehen. Um missverständnisfrei zu bleiben: „Professor Bernhardi“ ist weiterhin inhaltlich wichtig, richtig, sinnfällig zu lesen, aber für die szenischen Ansprüche heute, ich sage es ungern und mit der Legitimation des Literaturwissenschaftlers, der sich eingehend mit Schnitzler beschäftigt hat, darum direkt, als „Schauspiel“ tot. Draußen vor der Tür stand luxuriös die Limousine, abholbereit.
Ebenso gut hätte diese aber auch vorgefahren sein können, um sich des Opfers der Geschichte, jener Toten anzunehmen, der jungen Frau, die in der Handlung im Privatklinikum Elisabethinum zu Beginn stirbt. Nach einem Kunstfehler, der überdeckt, verdrängt, getilgt zu werden scheint durch einen nebenbei, aber ganz rasch sich kristallisierenden Konflikt, Politik der Ablenkung irgendwie. An der Tür der Sterbenden, die in Euphorie fiebert, darin der Erwartung, (von einem Familienmitglied) abgeholt zu werden, schützt Professor Bernhardi die letzten Minuten ihres Lebens und lässt Hochwürden fürs Sakrament der letzten Ölung nicht zu ihr. Die religiöse Handlung könnte Aufregung verursachen, lebensverkürzend wirken.
Aus den Fachgesprächen mit small-talk-Charakter (oder umgekehrt) der Ärzteschaft schält sich ein Ringen um Interessen und Denkschulen (Antisemitismus, Deutschnationalismus) heraus. Man hört es kaum, das eine Wort, obwohl es im Dialog wiederkehrt, es und das, wofür es steht, wollten besser herauspräpariert werden: Das Wort lautet „Pflicht“, die des Arztes, dagegen die des Priesters, Medizin versus Religion. Machteinfluss als Treibmittel macht aus dem Mücken-Ereignis an der Krankenzimmertür den Elefanten der Verfolgung. In der Linzer Inszenierung könnte er viel größer im Raum stehen. Darin sehe ich eben das Hemmnis einer enormen Textmenge, die geschrieben und gelesen, mehr zur großen Prosaform eines Romans in Dialogform neigt, als ein Theaterstück für Spielhandlungen herzugeben. Dabei hat die Regisseurin Stephanie Mohr gute Ideen, zu Beginn eine Bewegungschoreographie des riesigen Ensembles, dem allesamt Respekt und Hochachtung für eine kraftvolle Leistung zu spenden ist, oder für die Rolle einer Krankenschwester, die dann zur Patientin wird. Die einzige Frau im Stück wird wörtlich an den Rand des Bühnenbilds (vom Meister der großen Raumschachteln, Florian Parbs, mit leeren Wänden schwebend gehalten) in die Hinterbühne hinaus ins Krankenbett geschoben, dort legt sie sich unter die Tuchent, verschwindet somit (was wohl wegen der Perspektive im Zuschauerhaus nur den ersten Reihen im Parterre zu erkennen vorbehalten bleibt).
Ganz dominant setzt Mohr auf die Idee von Schreibtischdrehsesseln unterschiedlicher Bauart, je nach Design auch den Status der Ärztegesellschaft bis hin zum Unterrichtsminister Dr. Flint spiegelnd. Die Fahrten damit, zueinander, gegeneinander, das Ab- und Zuwenden damit, ach, es verbraucht sich rasch.
Gewinnend fand ich die Soundkulisse von Wolfgang Schlögl. Eingenommen hat mich das textmengenjonglierende Dialogspiel von manchen, besonders von Julian Sigl als Dr. Eberwald oder die herrliche Studie des Dr. Filitz von Jan Nikolaus Cerha. Eine starke Visitenkarte aus dem Kreis jener Jungdarsteller, die aus ihrem Schauspielstudium an der Anton-Bruckner-Privatuniversität der Stadt heraus hier das Ensemble verstärken, gibt Nils Thomas als Bernhardis Sohn Oskar, der die emotionale Belastung zeigt, die sonst, auch in der Hauptfigur, nicht zu erkennen ist. Jetzt komme ich zu Sätzen, einer fällt dann schwer, muss aber sein: Christian Higer in der Titelrolle. Ich schätze diesen großen Schauspielkünstler sehr, er steht für unvergessene Theaterstunden (Goethes „Torquato Tasso“ vor Jahren!) und er ist oder wird von der Schauspielleitung in Richtung Star des Hauses gedrängt. Meiner Meinung nach ist er als Professor Bernhardi aber nicht geglückt besetzt. Zu konturlos bleibt die Entwicklung, zu durchgeschoben wirkt er, dem das Geschick vor der Krankenzimmertür, eine Kleinigkeit, eine Lappalie zur großen Prüfung mit immensen Folgen gerät. Bernhardi geht ja zwei Monate ins Gefängnis. Dem Menschen, dem Arzt, seiner Karriere setzt das zu. Natürlich wäre dies als Folie für Judenverfolgung lesbar. Mir wird es zu wenig deutlich gemacht in diesem Abend, der im letzten Akt, Drehbühne sei Dank, das Ministerium zu einem kafkaesken Schauplatz wandelt, an dem sich zuletzt alles auflösen soll, alles nur Einbildung? Diese Infamie, die die Luft knapp, den Raum eng macht, in die sich textlich aktuelle Anspielungen mischen wie auch in den Requisiten, wenn plötzlich eine namhafte Wiener Stadtzeitung ausliegt, es wird anachronistisch, aber nicht aussagekräftig, für mich irgendwie mutlos.
Natürlich setzte in der Sekunde des „Black“ nach dem fünften Akt sofort tosender Applaus des Premierenpublikums ein. Dieses ist gnadenlos, lässt mir (und wohl auch anderen) aus der Konzentration auftauchend nicht einen Atemzug einer stillen Nachwirkung zu. Es feiert natürlich und vollkommen zu Recht eine gewaltige und darin herausragende Schauspielerleistung (alle Männer des Ensembles plus Studenten und Gunda Schanderer als Krankenschwester/Patientin), mit Bravo-Rufen und Standing Ovations. Man muss in Premieren schon immer auch wissen, dass natürlich viel Verwandt-, Kolleginnen- und Kollegenschaft der Akteure zu Gast ist. So soll es sein, soll gefeiert werden. Dieser Reaktionsorkan sagt nur nie wirklich etwas aus. Ich tat mir vor acht Tagen sehr schwer mit ihm.
Foto: Petra Moser/mit freundlicher Genehmigung des Landestheaters Linz
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