Schlussendlich passte dann der Stoß Papier in einen blauen Ordner, einem mit breitem Rücken natürlich. So zumindest trug ihn der Chefverhandler der Europäischen Union, Michel Barnier, durchs Fernsehbild. Boris Johnson bilanzierte die Verhandlungen in populistischer Denkweise für sein Volk so, dass sich in 43 Prozent aller zu klärenden Fragen die Briten, nur in 17 die EU durchgesetzt habe, der Rest sei Kompromiss.
Auch so kann man einen Erfolg verkaufen, der sich nun seit Jahreswechsel, dem Vollzug der Scheidung des Vereinigten Königsreichs vom europäischen Staatenbund, erst beweisen muss. Noch allerdings ist Übergang. Die neuen Regeln müssen sich erst einspielen, danach erst werden sich die wahren Grenzen zeigen. Zwar waren die Briten mit 31. Jänner 2020 formal ausgetreten, bekanntlich nach mehreren Anläufen, mit Verstörungen selbst in Familien und ganz am Anfang stand ohnedies das falsche Liebäugeln mit der vox populi. Kann so eine Entscheidung breitentauglich getroffen werden? Hätte David Cameron 2016 nur nicht mit dem Feuer gespielt! Es brannte dann schon im Vorfeld der Abstimmung lichterloh, rieb Remainers gegen Brexiteers auf. Dabei schrieb sich auch ein politisch motivierter Mord (an Jo Cox, Brexit-Gegnerin der Labour-Partei) in die Geschichte Großbritanniens ein. Was wurde eigentlich aus Theresa May, die in Camerons Nachfolge die Folgen des Votums zu exekutieren hatte, Aufräumen von Trümmern als Aufgabe für Frauen auch hier, bevor dann Boris Johnson übernahm und sich nun nach dem am Heiligabend 2020 für sein Land geschnürten Pakt-Paket feiern lässt?
Berichtet wird, dass Unternehmen auf der Insel ihre Lagerbestände gut gefüllt hätten, um Engpässe bei zu importierenden Waren aus der Europäischen Union ausgleichen zu können. Denn nun ist an allem, was über den oder unten durch den Ärmelkanal transportiert wird, die Zollbehörde beteiligt, mit jeder Menge Formulare und Papiere. Sich bei den Briten niederzulassen, ist ab sofort schwierig. Aus dem ERASMUS-Programm für Austauschaufenthalte von Studierenden sind die Briten ausgestiegen. Geschäftlich Reisende benötigen Visa. Für den Tourismus bleibt der Landesbevölkerung Richtung EU und umgekehrt dies erspart.
Man wird zwar zurzeit, selbst wenn man es wollte, nicht auf die Insel reisen, denn die Pandemie hält das Land zudem in einer besonderen Isolation, konkret wegen der Mutation des Virus. Als der britische Premierminister Tage vor dem Deal mit Hinweis auf das veränderte Virus die Maßnahmen von Familientreffen zu Weihnachten verschärfte, meinte ich tatsächlich, Großbritannien und Europa werden gerade Zeugen des Wurfs einer Nebelgranate durch den Populisten. Johnson müsse wohl die eigene Bevölkerung vom wankenden Ergebnis des Verhandelns, eventuell sogar einem „no-deal“, ablenken. Soweit bringt es Populismus, er unterläuft jede Glaubwürdigkeit eines Politikers, selbst dann, wenn er über Fakten und Wahrheiten spricht.
Mittlerweile schreibt man auf der Insel täglich horrende Infektionszahlen und sieht das National Health Service (NHS), bislang niedergespart, neuerlich an die Grenze der Belastbarkeit geraten.
Es ist schon einer von vielen Irrwitzen insbesondere der britischen Gegenwart, dass just ein ehemaliger Offizier auf dem wörtlichen Weg (Runden mit dem Rollator ums eigene Haus) zur Vollendung seines hundertsten Lebensjahrs eine gewaltige Fundraising-Kampagne für das NHS auslöste. 32,7 Millionen Pfund in sechs Wochen sammelte der spazierende Sir Thomas „Captain Tom“ Moore für das marode Gesundheitssystem. Den Adelstitel gab es mit Ritterschlag durch die Queen im vergangenen Sommer als Dank und Anerkennung. Auch dass die Briten nach Miss Keenan in Nordirland als ersten Mann einen namens William Shakespeare (!) gegen Corona impften, passt wunderbar.
Wie heißt es so schön? Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Wohl die Devise in der neuen Freiheit, die sich die Briten nun gestalten müssen.
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