In Passepartout und hellem Holzrahmen fasst das Bild eine Seite handschriftlicher Notationen, Bleistiftpunkte und -striche, Bögen, Klammern, Pausenzeichen, und wenn der Platz nicht reichte, so hatte Balduin Sulzer einfach ein Stück Notenzeile dazu geklebt. Auch so wuchs über das übliche Format hinaus, was der Komponist erschuf.
Ich besitze ein Blatt der Partitur zu seiner dritten Oper „Kaspar H.“, Elisabeth Vera Rathenböck schrieb das Libretto, Anfang 2011 wurde die Oper am Landestheater Linz uraufgeführt. Am 10. April, vor zehn Tagen also, ist Balduin Sulzer gestorben, vor einem knappen Monat feierte er seinen 87. Geburtstag. Als bedeutender österreichischer Komponist hinterlässt er mehr als 400 Werke, darunter neun Symphonien. Auf der Suche nach einem Trost für mich und meine Familie, in deren nächstem Umfeld – wie in so vielen – er einen Platz hatte, weil die Freude an seiner Musik unsere Leben so nahe zueinander brachte (er komponierte einfache Melodien für Kinder, die im ersten oder zweiten Jahr Geige lernen, für Elisabeths Kinderbuch „Abenteuer Musik – Das Geheimnis der Geige“ und in Folge auch eine Musicalfassung desselben), werde ich beim spielenden, lehrenden, schreibenden Musiker Norbert Trawöger fündig, der ihm zum 85. Geburtstag 85 Fragen stellte und die Antworten auf Nr. 17 und 18 anlässlich Balduin Sulzers Tod hervorkehrte: So fragte er ihn …
17. Was ist die vorletzte Sache, die du tun möchtest?
Balduin Sulzer: Atemholen für die letzte.
18. Und was kommt dann?
Balduin Sulzer: Ich muss ehrlich sagen, ich glaube, dass es noch weitergeht. Ich habe zwar angefangen, aber aufhören tue ich nie. Das gehört zu meinem Glaubensbereich dazu. „et vitam venturi saeculi“ (das Leben der kommenden Welt) heißt es am Schluss des Credo.
In meinem Küchenkästchen, in dem ich die Gewürze verwahre, steht ein Glas, sechseckig im Grundriss, verschlossen mit einem Metalldeckel, dessen Farbe den Anschein erweckt, als wäre es Messing, beklebt mit einer weißen Etikette, auf der in schöner Handschrift „heimisches Kräutersalz“ geschrieben steht. Von ihrer eigenen Hand gemahlen erhielt ich es als Geschenk von einer lieben Kollegin und Freundin, die am 6. April, vor zwei Wochen, nach kurzer schwerer Krankheit gestorben ist, jung, viel zu jung, ein wenig jünger als ich selbst. In dieser verständnislosen Ohnmacht, in der ich, in der wir, ihre Kolleginnen und Kollegen, zurückbleiben, hilft ein Gedicht von Rainer Maria Rilke. Die Auswahl verdanke ich einer Kollegin, mit der ich zeit meines Lehrerseins eng zusammenarbeite. Ich durfte das Gedicht bei der Abschiedsfeier vortragen. „Über die Geduld“ philosophierte Rilke am 23. April 1903 in Viareggio nahe Pisa:
Man muss Geduld haben/Mit dem Ungelösten im Herzen,/und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,/wie verschlossene Stuben,/und wie Bücher, /die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.
Es handelt sich darum,/alles zu leben./Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich,/ohne es zu merken,/eines fremden Tages/in die Antworten hinein.
Das Leiden und der Tod dieser beiden mir vertrauten Menschen, zeitlich so nahe zur Passionsgeschichte Christi im Frühjahr 2019, wirkt auf mich als Memento mori. Schon lange nicht mehr hat mich die Absolutheit der Endlichkeit so in Reflexion gebracht und erkennen lassen, dass es an der zu bewältigenden Metamorphose liegt, die im Physisch-Realen entzogene Chance auf Begegnung und Lachen zu einer Schwingung starken Erinnerns zu wandeln.
Durch diesen Prozess gehe ich zu Ostern 2019. In ihm bestimmt sich für mich Auferstehung.
Fotoquelle: farb.werk, mit freundlicher Genehmigung
Kategorien:Philosophie, Religion