Ich sah „Faust“. Zweimal binnen zwei Wochen. Zuerst gestern vor zwei Wochen in Graz in einer Interpretation des „t´eig“, eines Off-Theaterensembles, das mit „fAUSt und vorbei“ nun mit einer letzten Vorstellung gestern am 24. zehn Jahre Interpretationsfreiheit von Dramen an jeweils wechselnden Spielplätzen (beispielsweise „Geschichten aus dem Wienerwald“ im Schwimmbad) oder in geschicktem Transfer in andere (Kostüm)Welten (die Figuren von „Hamlet“ in verschiedenfärbigen Karate-Gis mit Namen und Landaufdruck Dänemark am Rücken) abgeschlossen hat.
Ja, „t´eig“ hört auf und die Gründe dazu benannte der Mann mit Hipsterbart und Kellnerbrieftasche im zum Theaterflohmarkt verwandelten Foyer damit, dass es gut sei, ein Projekt abzuschließen, bevor man höre, naja, früher waren sie halt schon besser. Der Hintergrund zur Entscheidung ist auf der Homepage nachlesbar und -fühlbar. Graz ist da nicht nur Graz, sondern wohl jede Gegenwart urbanen Kunstschaffens.
Das fünfköpfige Ensemble nutzte den Stoff parodistisch, klopfte Goethes Verse, von bedächtigem Gewicht als Kulturgut, mit allen Registern des Improvisationstheaters ab. „Faust“: dieser Stoff, der immer wieder das Stützgefüge des Weltengebäudes in seinem Knarren wahrnehmbar macht, weil es darin um die ewige Frage geht, zu welchen Mitteln der gebildete Mensch zu greifen bereit ist, um sich seiner Vorteile sicher zu werden, in der Liebe, in Fragen der Macht, den zentralen Topoi allen Erzählens, für den schönen Augenblick, alle Kollateralschäden inbegriffen.

Felix Rank (Wagner) und Markus Hamele (Faust) in „Urfaust“ am Theater Phönix in Linz (Oberösterreich) – Foto: Helmut Walter/Theater Phönix
Wenn man heute „Faust“ spielt, so braucht man für die lyrischen Passagen, für die Lieder darin einen Genius loci, der diese musikalisch so unterlegt, dass die Zeitgeistigkeit die Geschichte vom Pakt zwischen Faust und Mephisto im Heute ankommen lässt. In Graz saß Rainer Binder-Krieglstein live am Schlagzeug, in Linz – wo man seit vergangenem Donnerstag am Theater Phönix den „Urfaust“ in den Spielplan genommen hat – vertraut man auf Gilbert Handler. Der gibt der Erstversion des großen deutschen Dichters einen Sound in Songs, den ich bitte sofort als Tonträger haben möchte. Denn da hat sich Markus Hamele als Faust von einem raumhohen Bücherstapel im großen Monolog („Habe nun ach…“) in jene Besessenheit gespielt, in der er seine Persönlichkeit nahezu spaltet, das Böse in ihm und aus ihm selbst erwächst. Da spielt David Fuchs einen schlaksigen Mephisto, der sich sein asthmatisches Lebensodem dann und wann mit dem Zug aus dem Inhalator anfeuert. Da verschmelzen die beiden zu einem Paar, das Wissen und die Versuchung durch das Böse. Der vampirhafte Diener erschleckt sich das Blut, diesen besonderen Saft, den er durch seinen Biss in Fausts Hand zum Fließen brachte, vom frisch unterzeichneten Papier und auch von allen eigenen Fingern. Ist dieser Deal erst vollzogen, legt die Inszenierung mit zwei Songs, herausragend gesanglich vom Ensemble interpretiert und auch choreografisch (Doris Jungbauer) genial ins Bühnenbild gesetzt, los. Da fährt Dampf in eine stampfende Theatermaschine, die uns im Publikum in Goethes Versen mit spitzfindigen Erweiterungen von Regisseur Harald Gebhartl seziert, wie die Lust an Macht unsere Welt ins Kippen bringt. Hinter einem Bühnenportal mit schönem roten Theatervorhang (Bühnenbild: Gerald Koppensteiner) tut sich dafür je nach Diwan einmal Gretchens (Nadine Breitfuß), dann Marthes (Marion Reiser) Zimmer auf. Im Spaziergang im Garten findet Gebhartl für Faust und Gretchen Platz auf vier Kinostühlen, wo sie sich im Liebesfilm-Ton aus dem Off selbst hören.
Die Tragödie nimmt natürlich ihren Lauf. Während in Graz des Regisseurs (er spielt selbst als einer unter den fünf) Tochter wie eine „dea ex machina“ im Pyjama auf die Bühne kommt, um den Selbstmord Heinrichs mit „Aber Vater, es ist doch nur Theater“ zu verhindern, ist das finale „Ist gerettet!“ im Linzer Theater Phönix der vielleicht vergebliche Schrei nach einem Entkommen-Wollen aus der machtgeilen Weltmaschine in Vollbetrieb. „Und seh´, dass wir nichts wissen können“, sagt Faust, „das will mir schier das Herz verbrennen.“ Mir verbrennt es mein Herz fürs Theater, weil „t´eig“ in Graz endgültig von den Bühnen abtritt. „Urfaust“ im Theater Phönix entfacht in meinem Herz fürs Theater einmal mehr ein Feuer der Begeisterung.
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