Politik

Europa, wähle Zukunft!

Ich denke an den Film von Lars von Trier, „Europa“. Er beginnt mit einer Einstellung auf Geleise. Wir fahren in einem Zug, müssen aber vorne an der Lok hängen, knapp über dem Boden, denn wir blicken auf dahinziehende Schienenstränge und die Schwellen dazwischen. Max von Sydow als Stimme aus dem Off zählt uns bzw. Leopold, dem Helden, den Eintritt nach Europa bis zehn hinauf.

Die Geschichte des Deutschamerikaners, der nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach Europa kommt, Schlafwagenschaffner wird und den Kontinent nun in den Adern seiner Zugverbindungen und in den Bahnhöfen kennenlernt, kippt in das Erstarken des ewig Gestrigen, der nationalsozialistischen „Werwölfe“-Bewegung. Leopolds Frau enttarnt sich als eines ihrer Mitglieder, Leopold wird instrumentalisiert, er vollzieht ein Attentat auf einen Zug und stirbt.

Der Film kam 1991 heraus und beschloss Lars von Triers „E-Trilogy“ (Teil 1: „The Element of Crime“, Teil 2: „Epidemic“). Zu gern würde ich alle drei Meisterwerke wieder einmal sehen, das dritte insbesondere. „Europa“ hat als Parabel doch irgendwie sehr viel mit Europa heute zu tun.

Am nächsten Sonntag finden in Österreich die Europa-Wahlen statt. Wen entsendet das wahlberechtigte Volk für die nächsten fünf Jahre ins europäische Parlament? Der Wahlkampf hierzulande ist keiner. Er reduzierte sich auf Ungemach rundum eine Jungpolitikerin. Wieviel privat spielt in ein künftiges Mandat hinein? Darum dreht sich alles seit Wochen. Frau L. (ich verwende für alle Kandidierenden in Folge die Anfangsbuchstaben der Vornamen, schreibe keinen Namen und keine Partei aus, ich mache für niemanden Werbung) muss in ihrer Jugend, die nun auch in Funktion politisch aktiv wird, vielen Angst machen. Das dachte ich mir, so heftig, wie diese Kampagne ausfiel und wohl inszeniert worden war. „Herz statt Hetze“ steht auf einem ihrer Plakate. In der Wirklichkeit der wahlwerbenden Auseinandersetzung hat sich die Reihenfolge der beiden Nomina umgekehrt.

Und sonst? Ist nichts, was der/dem Wahlberechtigten einen inhaltlichen Anhaltspunkt bieten kann, warum die Stimme dieser oder jenem gegeben werden soll: Auf Bundesebene kandidieren für die beiden vormaligen Großparteien Herr R. und Herr A.. Wofür sie inhaltlich stehen wollen und werden, erschließt sich über kein Plakat. Herr H., der schon im Parlament sitzt, wettert für seine Partei gegen alles, was in der Vergangenheit simple Gemüter erhitzen konnte und weiterhin tut: Unter einer geschalteten Werbeanzeige in Facebook von Herrn R. las ich mich durch ein paar postings, alle in einem Deutsch jenseits von Grammatik- und Rechtschreibnorm. Dort bekundeten alle ihre Freude am rechtspopulistischen Treiben. Denn die versprechen ja aufzuräumen, mit „Klimakommunismus“, „Kriegstreiberei“, „Corona-Maßnahmen“ – Leute, wie alt ist denn dieser letzte Hut schon? Da wird das Votum am nächsten Sonntag zu nichts anderem als einer Meinungsumfrage für den Wahlgang Ende September zum österreichischen Nationalrat. Dem europäischen Rechtsrucktrend entkommt Österreich wohl auch nicht. Ein anderer Herr H. kandidiert ebenso, ehemals Journalist. Bis dorthin, wo ich lebe, und das nennt man den Zentralraum Oberösterreichs mit ein paar hunderttausend Bürgerinnen und Bürger, reichte wohl die Plakatierkraft seiner Fraktion nicht, keine Präsenz.

Regionalere Gesichter, die schon im Europaparlament Sitz und Stimme für unser Land eingenommen hatten, werben einerseits mit der Zusage, in Brüssel für Oberösterreich zu arbeiten (so Frau A., ich dachte, dort ginge es um Europa?) und noch ein Herr H. hat sich als vormaliger Bürgermeister des Zentrums der diesjährigen Kulturhauptstadtregion Salzkammergut in den vergangenen Monaten mehr dabei Gesicht und Namen gemacht. Für mich erweist sich nochmals die Kombination als unerträglich: Man kann in einem Jahr der Wahl nicht Europäische Kulturhauptstadt durchführen, das wird, wurde und bleibt eine Wahlkampfveranstaltung.

Ich bin Europäer und verstehe mich als solcher, ich schätze das kontrollfreie Reisen in der Schengenzone, die Einheitswährung, die Mobilitätsmöglichkeiten auf Arbeitsmarkt und in der Bildungsszene. Ich fordere eine unbedingt zu stärkende Wirtschafts- und vor allem Innovationskraft in Wissenschaft und Forschung hier auf diesem Kontinent, eine dringende Neupositionierung, um gegenüber China, Amerika und anderen Staatenbündnissen auf dieser Welt in irgendeiner Weise mithalten zu können. Ich sehe zahlreiche Themen, die die Union dringend mit Maßnahmen begleiten muss, darunter undiskutierbar, ob diese Themen tatsächlich welche sind, zwei Beispiele, Klimawandel und Migration: Beide sind gegeben, beide wirken bereits in einen gesellschaftlichen Wandel in Europa.

Ich gehe darum am nächsten Sonntag wählen. Ich weiß zwar heute noch immer nicht wen. Ich weiß ganz sicher, wen nicht: Vergangenheitsanbetung, Aufrührerei, Verschwörung, altes Denken, das zwar abstreitet, zurück in die Nationenkleinform zu wollen und dennoch mit den Gedanken liebäugelt, das alles brauchen wir gewiss nicht.

Schade ist, dass die wahren demokratischen Kräfte in ihrem Wahlkampf wieder nicht klar machen konnten, für welche Zukunft ihre Arbeit in der Europäischen Union steht. Möge sich das nicht in der Zahl jener, die am nächsten Juni-Sonntag ihr Wahlrecht nutzen, rächen. Das wäre bitter für die nächsten fünf Jahre!

Noch etwas zum Schluss: Natürlich ist der Sonntag in Österreich gut eingeführt als Wahltag. Italien wählt erstens an zwei Tagen (Freitag und Samstag) und zweitens, höchst sympathisch, gibt es am Freitag auch Wahlzeit am Abend. Das könnte man doch zumindest einmal ausprobieren, liebe Verantwortliche!

Foto: Budy/Polen, 4. September 2021, 6:48 Uhr – am Ostrand der Europäischen Union, nicht aber am Rand von Europa

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