Warum feuere ich im Titel das bevorstehende neue Jahr in Französisch an? Weil ich der Lautung eines Refrains nachschreibe, in dem das Wort „alle“ zumindest durch einen Florianer Sängerknaben und DJ und Musikproduzent Parov Stelar sehr deutlich auf der zweiten Silbe betont wird, also „allé“, nicht „álle“, die zwar eigentlich gemeint sind.
Denn das kecke Werbefilmchen, mit dem der Oberösterreich Tourismus die Trommel für 2024 rührt, setzt auf die Botschaft, dass wir alle (allé?) Kultur sind. „Na no na ned“, raunze ich oberösterreichisch dazu. Vielleicht meinten sie ohnedies eher das Postulat einer „Kultur für alle“, mittlerweile verstaubte Losung aus grauen Vorzeiten, als die Chancenverteilung auf Teilhabe noch nicht so gegeben war wie heute.
2024 hält im Bundesland Oberösterreich neben all dem, was die Kunst- und Kulturszene ohnedies Jahr für Jahr anbietet, zusätzlich zwei Füllhörner bereit, sie werden sich über uns ergießen: Die Region Salzkammergut wird im nächsten Jahr Europäische Kulturhauptstadt und im Land ob der Enns feiert man im gleichen, rasch nahenden Jahr den 200. Geburtstag seines musikalischen Landesvaters, Anton Bruckner. „Kultur für alle, alle“ oder allé oder allez, „komm schon“, heißt es oder „vorwärts“, „allez les Bleus!“ verlangen die Fans von der französischen Fußballnationalmannschaft.
Der Oberösterreich Tourismus hat für seinen Spot ein Lied eines hier lebenden bosnischen Sängers und TikTok-Stars, Fazlija (zuvor nie gehört, okay, ich bin die falsche Generation und/oder Zielgruppe), adaptiert. Die Schelte für das sexistische Frauenbild, das im Video zum Originalsong zelebriert wird (eine wenig bekleidete Frauengruppe bewegt fleißig ihre Hüften), wurde in genau einem Zeitungsartikel kurz abgehandelt. Sonst kümmert das anscheinend wirklich niemanden. Kultur für „alle! alle!“, geschöpft aus einem machistischen Statement. Kein Diskurs dazu, obwohl das Publikum, das Kunstveranstaltungen wahrnimmt, weiterhin mehrheitlich weiblich ist. Herr Fazlija wurde zudem vom Tourismusverband als Kulturbotschafter fürs Jahr 2024 ausgerufen. Er ist das meiner Beobachtung nach immer noch sehr allein. Sein diplomatischer Dienst fürs Kulturimage des Landes wird kreativ geschrieben. Die Buchstaben „-turbo-“ inmitten des Kompositums werden groß hervorgehoben. Somit schreit es einen Geschwindigkeitsrausch hinaus, der uns in viel zu vielen Veranstaltungen 2024 auferlegt sein wird.
Zum Brucknergeburtstag und seinem Programm ein anderes Mal, hier zum Salzkammergut als „Kulturhauptstadt“: Wer hätte gedacht, dass sich nach 2009, als Linz den Kulturhauptstadttitel trug, in nächster Nachbarschaft irgendwer die emotionale Schwere dieser Auszeichnung nochmals antun möchte? Von Bad Ischl ausgehend sitzen nun 23 Gemeinden mit im Boot einer Region, die sich als Kulturhauptstadt versteht. Urban ist dort nichts, wird es auch nicht werden können oder ernsthaft wollen. Im Klotz von einem Programmbuch schlägt die Überfüllung zu. Natürlich hat das Team, das viele Projekte verschiedener Projektträger verklammert, auf traditionelle Beiträge im Jahreslauf des Salzkammerguts gesetzt, die Intendanz umarmt diese. Auch die Schiflugweltmeisterschaft, die Nacht der Ballone (Dachsteiner Alpentrophy) oder das Unteracher Seefest: Das fällt also unter den Satz, dass eh alles Kultur ist. Sonst weiß ein interessierter Rezipient (ich!) nicht, wie er mit der Fülle umgehen soll, außer an ihr zu scheitern, erschlagen schon von der Drucksorte des Programmbuchs, eine moderne Form von Wimmelbild, also -buch.
Ich orte ein ganz speziell österreichisches Merkmal in Durchführung von nach Gigantomanie strebenden Festivals, örtlich wie zeitlich. Wir haben hier die Tendenz zum Überbordenden, nie ist weniger mehr, sondern nur mehr und mehr genug. Das gilt auch für die Organisationsstrukturen, Menschen, viel zu viele, die Jahre zuvor, im Durchführungsjahr selbst und im Follow-Up danach, daran arbeiten. Sie nennen es Kulturmanagement. Da wird mit Begehrlichkeiten vor allem der vor Ort ansässigen, jahrelang ihre Anliegen verfolgenden und rührig umsetzenden Akteurinnen und Akteure gespielt, mit Nähe und Distanz. 2009 erlebte ich das in Linz, vor allem mit dem scheußlichen Beigeschmack, dass die hier eingesetzte Intendanz auftrat, als fiele sie, in Pacht der Wahrheit über die Stadt, ein, um uns, die wir hier leben und unsere Kunstformen in Auseinandersetzung mit unserem sozialen Umfeld entwickeln, zu kolonialisieren. Das kehrt nun 15 Jahre später wieder. Besonders hässlich wird es, wenn aus dem Team jemand ohne irgendwelche Austauschformen von Kommunikation mit am eigenen Projektmanagementreißbrett entwickelten „Projekten“ auf dich zugeht und meint, du brichst vor lauter Glück über solche Segensgeschenke in Begeisterung aus, stimmst zu, Tränen in den Augen, endlich, ein Licht in dieser Welt regionaler Verblendung!
Uns in unserer Schule erreichte im Sommer 2023 eine Mail aus dem Kulturhauptstadtorganisationstempel mit dem durchgeplanten Workshop fürs Buchbinden für eine Schulklasse von uns, Ort und Termin fix gesetzt. Gesprochen hat zuvor niemand mit uns. Die blanke Ahnungslosigkeit über die Lernziele unserer Schule spiegelte sich in der kleinen Mailnachricht genauso wie der vorgebliche Stolz, uns hier in der Entwicklung helfen zu wollen. Wir sagten knapp ab und trafen damit eine schwere Majestätsbeleidigung der heilsbringenden Kulturhauptstadtmachenden. Seither null Kommunikation.
Anderswo sind die Teams der Steuerleute immer sehr klein, sie verlieren ihre Herzlichkeit nicht in einem aufgeblähten Apparat. So war das Mitte November auch in Brüssel spürbar, wurde mir berichtet, als alle drei Kulturhauptstädte 2024 ihre Programme präsentierten. Tartu (Estland) und Bodø (Norwegen), die beiden vermittelten ihre Programme viel charmanter ans Fachpublikum in Brüssel als die österreichische Delegation. Der Hang zum großen Bürokratisieren erwies sich schon 2009 als Sand, der sich davor, im Jahr selbst und danach ins Getriebe geworfen lange nicht herausreiben ließ. 2024 scheint sich all das wiederholen zu müssen. Für alle, alle!
Allez, 2024, zeige, dass du das abwenden kannst! Ich versuche vorerst mein Glück erneut, aus der Angebotsflut des Programms sicherbare Beute zu fischen, eine Auswahl dessen, was ich meinem Terminkalender und meinen Interessen gut zumuten kann. Wie geschrieben, es geht nicht nur um die „Kulturhauptstadt“ allein, sondern auch ums Brucknerjahr, und alles andere.
Ich bin also beschäftigt. Womit, ist hier eingestanden. Mein Blog geht in die Weihnachtspause. Auf Wiederlesen am 7. Jänner 2024!
Foto: Ursprünglich stand das Thema Overtourism auf der Agenda der „Kulturhauptstadt“ Salzkammergut. Irgendwie haben sie es im Programm besonders gut versteckt. Hallstatt ist ein hotspot dieses Phänomens.
Kategorien:Kulturpolitik

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