Episches Theater, so verlangte es Bertolt Brecht vom Schauspiel, funktioniert referenziell. Die Schauspielerin oder der Schauspieler lässt durchblicken, dass sie oder er als Figur davon nicht emotional erfasst ist; Spiel im epischen Theater ist Dienst am Text, Dienst an der Botschaft.
Wie das heute auf Bühnen gelingen kann, bekommt man seit Ende September im Schauspielhaus des Landestheaters Linz (Oberösterreich) an „Mutter Courage und ihre Kinder“ vorgeführt (selten trifft ein Verb es semantisch so!): kein Planwagen, kein Zeitkolorit des Dreißigjährigen Kriegs, in den Brecht die Botschaft vom Krieg als immer auch sehr gutem Geschäft verfremdet verlegt hat.
Mutter Courage, Anna Fierling, die Marketenderin, ist Businessfrau, dementsprechend ihr Look. Da werden bei Geschäftsbesprechungen von einer soldatischen Maniküre die Fingernägel gemacht. Nach der Pause sieht man aber an Frau Fierling, wie der Nachwuchs im gefärbten Haar ein Grau hervortreten lässt, das die unbefriedigenden Geschäfte ihr hineintönen, nicht was in ihrer Familie passiert. Drei Kinder hat sie, Eilif, schon rasch als „Menschenmaterial“ für den Kampf erkannt, und Fejos, der eine Soldkasse gestohlen hat und dafür mit dem Leben bezahlt, auch deswegen, weil die eigene Mutter leugnet, ihn zu kennen. Das dritte Kind: Die stumme Kattrin, mit einer wunderbar zentralen Rolle, die ihr Regisseurin Susanne Lietzow in ihrer Inszenierung gibt, und ein viertes „Kind“ (nicht von Brecht), aufgenommen klein, zu einem riesigen Kerl gewachsen, Rocky als Figurenname, gespielt von Ricky Sky, einem aus der Wiener Wrestlingszene, der – und das ist das Wunderbare, was seine Rolle, seine Figur erzählt, in die Kinderwelt der „Courage“ das familiär Zärtliche, Liebevolle, Beschützende hineinbringt, wenn er mit dem kurz heimgekommenen Eilif balgt, und insbesondere wenn er Kattrin Stütze, Füße (er trägt sie herum), Höhe (wenn sie an die hintere Bühnenwand mit Kreide „Make love not war“ schreibt und das Friedenssymbol zeichnet) gibt. Fürsorglich ist Rocky immer da, und zwar, wofür sich die Mutter der Geschäfte wegen keine Zeit nimmt: Rocky, also ein kräftiges Kindermädchen, ein beschützender Bär – es ist so berührend, wie Kattrin über den einen Verhandlungstisch des Bühnenbilds barfuß hinüberklettert, eben noch von ihrer Mutter beschimpft, den Schutz in Rockys kräftigen Armen sucht und findet. Nataya Sam, diese wundersame junge Schauspielerin, deren hohe und breite Spielkunst sich die Landesbühne ins Ensemble geholt hat und die diese hoffentlich vielfach in weiteren Produktionen ihrem Publikum zeigen darf, spielt diese stumme Kattrin preisverdächtig (Nestroy-Jury, schaut da bitte genau hin!). Und woher das Schweigsame kommen kann, im Brecht-Text von etwas verursacht, was ihr als Kind in den Hals gesteckt worden war, erfährt eine interpretative Wende, wenn sie in etwa zur Mitte des dreistündigen Abends, kurzweilig, wie schon lange keine Inszenierung von mir erlebt werden durfte, im Gesang einsetzt, den Gilbert Handler (musikalischer Leiter der Produktion) in eigener Bearbeitung anstimmt: Rio Reisers „Der Krieg, er ist nicht tot, er schläft nur“, nicht synchron, leicht versetzt, die kräftige Männerstimme Handlers, die zarte der doch stimmfähigen Kattrin, traumatisiert stumm wohl vom Kriegsgeschehen – und auch von dem, was ihre Mutter daraus macht?
Susanne Lietzow besetzte Katharina Hofmann in der Hauptrolle – endlich, eine richtig große Partie für diese großartige Schauspielerin. Würdig übersetzt sie das Konzept der Regisseurin, die in Linz einmal pro Jahr ihre Interpretation an einem Bühnentext in den Spielplan beitragen darf (ich verfolge mit Leidenschaft die Arbeiten dieser Regisseurin, es ist auch hier nachlesbar, zuletzt „Pension Schöller“). Katharina Hofmanns Mutter Courage erreicht so eine Gültigkeit, ich will keine andere Spielart mehr sehen, jede andere kann nur nachstehen. Benedikt Steiner macht aus Eilif eine scharfsinnige Charakterstudie mit einem stimmlich-gesanglichen Bravourstück im „Lied vom Weib und dem Soldaten“, Jakob Kajetan Hofbauer steht dem mit seinem Fejos in nichts nach. Rundherum im Ensemble ist jede Besetzung genial: Julian Sigl als Werber, Jan Nikolaus Cerha als Feldwebel, Horst Heiss als Feldhauptmann, Christian Higer als Feldprediger, herausragend Sebastian Hufschmidt als Koch, in der Exzentrik eine unschlagbare Theresa Palfi als Yvette Pottier, die in ihrem „Lied vom Fraternisieren“ zugespitzt in der Phrasierung des „fraternisiert“ im Refrain uns das Entsetzen in unser akustisches Gedächtnis brennt, Klage, Protest, Bewältigung in einem. Studierende des Schauspiels der Anton-Bruckner-Privatuniversität Linz und ein alter Mann aus der Statisterie als alter Obrist tragen das Ihre zum Ensemble-Spirit dieser Produktion bei.
Im Hintergrund des offenen Bühnenkastens (Ausstattung: Aurel Lenfert), ein Tisch, ein paar Gartensessel, vom Schnürboden herab schwankt ein Container mit wohl Kriegsware, die nicht mehr den Boden des Umsatzes finden kann, bedrohlich über der Szene: Dort haben die Punks (grandiose Kostüme von Jasna Bosnjak) des Band-Trios ihren Platz gefunden, Cynthia Marton (Cello und Gitarren), Rainer Gutternig (Trompete, Bratsche) und der schon erwähnte Gilbert Handler (Bass, Schlagwerk).
Diese Inszenierung erreicht eine Mustergültigkeit. Die Realität unserer Gegenwart macht auch auf der Bühne so manche Gesten, Handlungen, Spiel notwendig, um das grauenvolle Massaker, die Wertlosigkeit einzelner Leben im Krieg zu verdeutlichen. Das schreckt vielleicht, reißt uns, die wir durch Medienbilder abgestumpft sind, aus Lethargien der Gewöhnung (Syrien, Afrika, Bergkarabach, Ukraine, sicher bald auch Israel). Was für eine Kraft, die Schauspiel hier – notwendigerweise! – freisetzen kann!
Foto: „Mutter Courage und ihre Kinder“ am Landestheater Linz – Ensembleszene, in der Mitte am Tisch Mutter Courage (Katharina Hofmann), dahinter Rocky (Ricky Sky), rechts von ihrer Mutter Kattrin (Nataya Sam) – Foto: Petra Moser/Landestheater Linz
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