Wir sind gefühllose Tote, die durch einen Trick, einen gefährlichen Zauber noch laufen und töten können. (Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues, S. 110)
In der kommenden Nacht wird sich weisen, wie viele seiner neun Nominierungen der Film „Im Westen nichts Neues“ bei der 95. Oscar-Verleihung im Dolby Theatre in Los Angeles zu tatsächlichen Prämierungen umwandeln kann. „Bester internationaler Film“ müsste ihm sicher sein, ebenso „Beste Kamera“ (James Friend) und „Beste Musik“ (Volker Bertelmann). Die Bilder, die Kamerafahrten, ihre Ästhetik und wie sie gebrochen wird, und ebenso, nur beispielsweise, das reduzierte, anmahnende Leitmotiv der Musik machen den Film zum Meisterwerk. Die geopolitischen Umstände, gemeint der ins zweite Jahr gegangene Krieg in der Ukraine nach russischer Invasion, geben dem Epos nach Motiven aus Erich Maria Remarques Anti-Kriegsroman von 1929 brandheiße Aktualität; gerade deswegen stünde ihm auch die Krönung als „bester Film“ zu.
Der Stoff vermag in seiner Adaption für ein Drehbuch (durch Regisseur Edward Berger selbst) die essenziellen Dinge klar fassen: Es geht ums Überleben bis zum eigenen Sterben, um die Kreislaufwirtschaft des Kriegführens in Material und Mannschaft; es geht um die Maschine der Vernichtung, die erst einmal angeworfen, gar nicht leicht wieder zum Stoppen gebracht werden kann. Auf der Ebene der Verhandler, die am wenigsten etwas mit der Romanvorlage zu tun hat, sitzen sich darum deutsche und französische Vertreter in einem Eisenbahnwaggon in der Einsamkeit eines winterlichen Walds gegenüber. Dort diskutiert man auf französischer Seite, ob die Croissants frisch genug, also vom Tag oder doch eher nicht, sind, während der Chefverhandler der Deutschen, Matthias Erzberger (hervorragend bis ins sprachliche Idiom gespielt von Daniel Brühl), um den Waffenstillstand und den Frieden ringt, schlussendlich auch unterschreibt, obwohl die Bedingungen selbst eigentlich nicht akzeptabel sind.
Währenddessen laufen die in ihrer Schule in die Begeisterung fürs Vaterland zu kämpfen (und zu sterben) getriebenen Jugendlichen über das schlammige Schlachtfeld, einer von Granaten erstellten Trichterlandschaft. In einem dieser Trichter kommt es in etwa zur Mitte des Films zu einem actionlosen, berührenden wie auch brüskierenden Moment, der das sinnlose Sterben in Szene, Spiel und Bild seziert. Für Paul Bäumer, die Figur des Erzählers im Roman, hat man mit dem Wiener Felix Kammerer ein Gesicht besetzt, das beschmiert mit Schlamm, Erde, Blut in den Close-Ups all dem Ausdruck vergeben mag, was die Lehre aus der Geschichte, konkret des Ersten Weltkriegs mit seinen Millionen Opfern in einem Stellungskrieg, nicht bis ins Heute bringen konnte. Sein Freundesfeld dezimiert sich in den zweieinhalb Stunden. Der Abschied vom letzten, von Katczinsky (Albrecht Schuch), kündigt an, was auch Paul bevorsteht. Edward Berger wendet sich hier wohl am stärksten von der Romanvorlage ab, in der Paul fällt, an einem Tag, an dem der Heeresbericht nicht mehr zu vermelden wüsste als das, was der Titel von Roman (und Film) aussagt. Anders also in den letzten zwanzig Filmminuten, in denen dramaturgisch zum analytischen Drama gewechselt wird: Man weiß, was kommt – und geht darum in eine sehr intensive Rezeptionsphase.
Danach brauchte ich einiges an Zeit und tiefes Durchatmen. Netflix stellt ein 18-minütiges „Making of“ zur Verfügung. Es hilft, aus der starken Illusion dieses Films zu unserer Gegenwart in Europa und zurück in die Realität zu finden, auch zur Frage, wie dieses sinnlose Töten und Sterben, gar nicht so weit weg von Österreich, endlich beendet werden kann. Meine klare Antwort dazu: Mit fortwährenden Waffenlieferungen und einer darum angekurbelten Rüstungsindustrie mit Rekordumsätzen geht es sicher nicht.
Update am 13.3.2023: Vier Oscars gingen an „Im Westen nichts Neues“ – bester internationaler Film, beste Kamera, bestes Produktionsdesign, beste Musik.
Foto: Roman (1929) versus Verfilmung (2022) – beides steht jeweils für sich mit starker Aussage.
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