Bildung

Wozu der Mensch fähig ist, im Guten wie im Bösen

In einer Woche, in der Nacht zum 2. Februar, jährt sich zum 75. Mal ein Ereignis, das wenige Monate vor Ende des Zweiten Weltkriegs geschah. Es ging unter dem Namen „Mühlviertler Hasenjagd“ in die Geschichte ein. In dieser Nacht gelang 400 sowjetischen Offizieren der Ausbruch aus dem Block 20 des Konzentrationslagers Mauthausen. In den Tagen danach setzte auf Befehl der Nationalsozialisten ein Jagen und Morden der Zivilbevölkerung ein. Nur wenige zeigten Courage, gaben den Flüchtenden Essen, Kleidung, Schutz und Hilfe. Nur elf der 400 überlebten.

Anfang der neunziger Jahre hatte ich die Gelegenheit, mit einem bewundernswerten Widerstandskämpfer und Volksbildner auf Spurensuche zu diesem dunklen Kapitel Geschichte meines Heimatbundeslandes Oberösterreich unterwegs zu sein. Peter Kammerstätter (1911-1993) stellte sich bis zu seinem Tod in den Dienst der Vermittlung von Zeitgeschichte. In sogenannten „politischen Wanderungen“ machte er Abläufe und Handlungsräume spürbar. So standen wir, organisiert wurde die Wanderung für eine Gruppe Interessierter als Veranstaltung der Volkshochschule Linz, in diesen ersten Februartagen dort, wo einst die Außenmauer des Blocks 20 verlief, über die sich die 400 Offiziere in die vermeintliche Freiheit retteten; abgemagerte Gestalten, die sie waren, der Lagerdrillich wärmte sie nicht, die Stofffetzen um die wunden Füße waren unzureichend. Sie trieb die Angst ums eigene Leben hinaus in ein unbekanntes Land. Viele starben im Kugelhagel der Maschinengewehre oder der Kälte wegen unmittelbar nach der Mauer. Auf die, die auf ihrer Flucht weiterkamen, wurde am Morgen danach eine Treibjagd eröffnet.

Mir hat sich tief ins Gedächtnis eingegraben, dass damals an die 20 Zentimeter Schnee gelegen haben sollen, bei minus acht Grad. Ich erinnere mich, dass uns „politische Wanderer“, in Daunenjacken gepackt und mit solidem Schuhwerk an den Füßen, beim historischen Lokalaugenschein fror und selbst die gute körperliche Konstitution uns auf jenen Pfaden kräftig schnaufen ließ, die die Flüchtlinge nutzten. Kammerstätter hatte diese Fluchtwege rekonstruiert. Wir gingen sie, wir liefen sie. Wir trafen auf unserer Wanderung zufällig Menschen, die miterlebten, was in den frühen Februartagen 1945 geschehen war. Ich erinnere mich an einen, der auf seinem Traktor unterwegs war, Kammerstätter gab ihm ein Zeichen anzuhalten. Er kannte durch seine Forschungen alle. Der Bauer berichtete uns, wie er als junger Landwirt sehr wohl wusste, was hinter den Mauern des Lagers geschah, immerhin hatte er, so wie viele andere auch, Kartoffeln und Gemüse geliefert. Und man wusste sich zu hüten weiterzusagen, was man bei diesen Lieferungen erlebt hatte. Nur dieses Schweigen, sagte er vom Traktorsitz herab, gab dir die Garantie, als Lieferant das Lager wieder verlassen zu dürfen.

„Der Herr lässt uns die Freiheit und wir liefern den Beweis, wozu der Mensch fähig ist, im Guten wie im Bösen“, sagt der Gemeindepfarrer in der filmischen Verarbeitung, die der oberösterreichische Regisseur Andreas Gruber vor 25 Jahren in die Kinos brachte. Der Film „Hasenjagd – Vor lauter Feigheit gibt es kein Erbarmen“ ist ein Stück Reue, etwas über hundert Minuten Mahnung, darin ein wertvoller Beitrag zur Bewältigung und Erinnerung, auch ein Plädoyer für Courage, die uns Gruber am Beispiel der Familie Karner zeigt. Ich habe den Film mehrmals gesehen, er hat mich jedes Mal ergriffen.

Die „Mühlviertler Hasenjagd“ ist nicht die Schuld meiner Generation. Nur wenn wir vergessen, wenn wir das Wissen darum nicht an unsere Töchter und Söhne weitergeben und diese wiederum an ihre, würden wir uns feig jener Verantwortung entziehen, die wir angesichts dessen, wozu Menschen im Guten wie im Bösen fähig sind, tragen müssen. Gegen eine solche Feigheit trete ich an. Immer wieder.

Foto: Gedenkstätte Konzentrationslager Mauthausen (Oberösterreich) – © Matthew Cudmore/en_wiki Wikimedia Commons

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