Dieser Tanzabend ist anspruchsvoll und das in zwei Teilen. Tanzdirektorin Mei Hong Lin betitelte ihn mit „Le Sacre“ (Das Opfer), was nicht nur den Titel von Teil zwei (Strawinsky) als Kurzform zu einer Verklammerung hochzieht. Die Versuchsanordnung im Musiktheater des Landestheaters Linz (Oberösterreich) lautet, was es mit Menschen macht, die durch den Lauf der Geschichte zu Opfern werden oder sich selbst opfern.
Zuerst entwickelt das Ensemble zu „Metamorphosen“ von Richard Strauss, einer ausschließlich mit Streichinstrumenten gespielten, dahinschwellenden schwermütigen Musik die Geschichte einer sogenannten „horizontalen Kooperation“, einer Liebe, die im Krieg (Zweiten Weltkrieg) nicht sein darf, zwischen einer Einheimischen und einem Besatzer. Während sich die Gruppen, aus denen die beiden Liebenden stammen, gegeneinander aufschaukeln, müssen die Paare für die historischen Wirren von ihrer Liebe lassen, eben dieses Opfer bringen. Der Abmarsch der sich zum Widerstand formierenden französischen Bürger zieht nach der letzten verklingenden Note den Blick hinaus aus dem Raum, während der rote Vorhang langsam das Bühnenportal zur Pause schließt.
Mei Hong Lin versteht es, ihrem Publikum in den Bewegungsmustern des Tanzensembles Angebote zu machen, den eigenen Blick zu schärfen. Körpersprache kann so klar sein, vor allem dann, wenn sich an ihr Formen der Gewalt studieren lassen. Als Zuseher wird man da zum Voyeur, lässt zu, sich vom Gesehenen gefangen zu nehmen. Diese Bilder nehmen einen in Beschlag.
Ich habe mich vor vielen Jahren als Kulturjournalist im Tagesgeschäft durch – in meinem Empfinden – Täler von Tanztheater gemüht, weil dieses sich in meinem Verständnis nur in der Ästhetik schöner, weil gut trainierter Körper verheddert hat, die mit-, gegen-, zueinander bewegt wurden. Ich bekenne, ich bin Erzähler, ich suche Geschichten. Darum war mir danach die Rezeptionsaufgabe durch Berichten (Schreiben) schwer gemacht worden, weil Kunstkritik einem – im Sinn der Epoche – aufklärerischen Anspruch verpflichtet ist. Ich konnte die Botschaftsleere schwer transportieren und aushalten, weil Schönheit allein nicht unbedingt immer von einem Erkenntnisgewinn getragen und/oder zumindest unterhaltend war.
Meine jüngsten Erfahrungen (zweimal „Macbeth“-Rekonstruktion nach Kresnik/Schwertsik/Helnwein, nun der Abend „Le Sacre“) nach langen Jahren freiwillig gewählter Abstinenz erfüllen mich mit unfassbarem Staunen darüber, was choreographisches Theater an Botschaft zu transportieren vermag. Im zweiten Teil des Abends legte Mei Hong Lin „Le Sacre du Printemps“ von Igor Strawinsky über eine Geschichte, für die sie sich vom israelischen Autor Yoram Kaniuk („Adam Hundesohn“) inspirieren ließ: der Holocaust-Überlebende Adam sucht gemeinsam mit anderen schwersttraumatisierten Patienten in einem Sanatorium Heilung, sein eigenes Menschsein und findet Zugang zu einem Kind, das wie er selbst als Tier gehalten worden ist. Die Traumata sind nicht lösbar und wachsen zu großen, sich mehrschichtig aufbauenden Erinnerungsbildern. Durch beide Stücke stolzieren und schlagen sich Macht (Regime) und Wächter im gleichen Kostüm. Das sind große Gesten. Dann bestimmen wieder ganz kleine wie beispielsweise der zart zitternde Versuch von Adam und dem Kind, sich die Hände zu reichen. Oder das Spiel damit, wie sehr es am Lächerlichen rührt, wenn der Bewegungsduktus der Lageraufsicht kurz aus den minimalisierten Ritualen seiner militärischen Disziplin kippt, einem Kurzschluss gleich.
Klärungen und Klarheiten, die durch sich souverän bewegende Körper geschaffen werden, faszinieren mich. Ich nehme sie dankbar an und werde neugierig auf weitere.
Bild: Núria Giménez Villarroya als „Kind” in “Le Sacre du Printemps” im Musiktheater Linz – Foto: Sakher Almonem/Landestheater Linz
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