Übersetzt man die kluge Analyse des Salzburger Publizisten Karl-Markus Gauß in eine, zugegeben, saloppe Sprechweise für den Alltag, wäre die Freiheitliche Partei Österreichs in der Parteienfamilie dieses Landes nichts anderes als ein trotziges Nachzüglerkind. Man kennt dessen Verhaltensauffälligkeit und dennoch versteht es seine Interessen durchzusetzen, mit der ihm eigenen Beharrlichkeit, ein Tyrannenkind also. So betrachtet scheint selbst der Verfassungsgerichtshof mit seiner „Erziehungsarbeit“ am Ende angekommen zu sein, als er vor zwei Monaten – mittlerweile breit und kontroversiell in Fachkreisen diskutiert – die Stichwahl zur österreichischen Bundespräsidentschaft aufgehoben hat, weil Manipulationen möglich gewesen wären (Konjunktiv! Es gibt keine einzige, die nachgewiesen worden ist), und die vollständige Neudurchführung heute in vier Wochen angeordnet hat.
Nachdem jedem Wahlkampf eigen ist, Aufmerksamkeit zu erwecken, und die Wahlberechtigten der Angelegenheit schon müde sind, immerhin sind die Positionen der beiden Kandidaten hinlänglich bekannt, schärfen beide Lager (und damit ist nicht nur die Wahlkampforganisation im engeren Sinn gemeint) ihre Positionen und befeuern (ein neues Modewort, ich muss es darum verwenden!) ihre Netzwerke mit Informationen, Gerüchten, Gehässigkeiten. Dass der Kandidat der Freiheitlichen nun zur Mäßigung aufruft, ist Appell, nicht mehr. Es bleibt bei einer Geste, die zudem etwas aufgesetzt wirkt, da sehr gut nachvollziehbar ist, wie aus seinem ideologischen Umfeld der Hass genährt wird (vgl. dazu Hans Rauschers „Woher der Dreck kommt“).
Dass sich auch die andere Seite im Ton vergreift, ist unbestritten. Dass der in der annullierten Stichwahl siegreiche Kandidat allerdings den Krebsspezialisten Österreichs konsultiert, sich untersuchen lässt, den Arzt von seiner Schweigepflicht entbindet, sodass dieser die vollkommen unbeeinträchtigte Gesundheit öffentlich bestätigen kann, um Gerüchte durch Fakten aus der Welt zu schaffen, wirkt verändernd in die Gesellschaft. Wieder wird eine Zwiebelschale mehr der nur noch von wenigen Häuten umspannten Privatheit von uns Menschen abgenommen.
Noch 2009 erzählte die deutsche Autorin Juli Zeh in „Corpus delicti“ von der Dystopie einer Gesellschaft, in der die medizinischen Daten jedes Individuums transparent und in Echtzeit als Entscheidungsgrundlage über ein Vorankommen verfügbar sind. Mit dem von Alexander Van der Bellen gewählten Mittel zur Mäßigung (und ich bin davon überzeugt, dass die Entscheidung, so vorzugehen, sehr gründlich diskutiert wurde, bevor sie umgesetzt worden ist) hat sich die Dystopie zu einem Stück Realität gewandelt. Nur der „störungsfreie Lebensfluss in allen Körperteilen, Organen und Zellen, ein Zustand geistiger und körperlicher Harmonie“ steht für Leistungsfähigkeit und Kraft, hieß es bei Zeh.
Wahlaufhebung und -wiederholung werden von noch unbestimmbar vielen gesellschaftlichen Nebenwirkungen begleitet. Diese sind nicht präventiv behandelbar, aber sie werden uns noch zu beschäftigen wissen.
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