Als es im Frühjahr 2024 zum Wechsel an der Stelle Schauspieldirektor des Landestheaters Linz (Oberösterreich) gekommen ist, war der Spielplan der nun zu Ende gehenden Saison bereits fertig erstellt. An zwei Positionen griff David Bösch als neuer Spartenleiter ein: die Eröffnung mit Shakespeares „Viel Lärm um nichts“ und die Wahl des Stücks zum Premierentermin gestern Abend (10. Mai 2025), zwei Tage nach dem 80. Jahrestag der Befreiung.
Die Dankbarkeit ist sehr groß, denn in dieser schnelllebigen Gegenwart, die vorrangig neue Stoffe für die Bühne gierig sucht und verheizt, ist das Wiederentdecken von Dramatik – viele Jahre gute Praxis am Theater! – zur Ausnahme verkommen. Dabei wäre dies so wichtig, wie eben jetzt mit der Inszenierung von „Die Flucht“ durch David Bösch selbst, ein Stück der Erinnerung an den eigenen Lebensweg von Ernst Waldbrunn, 1907 in Krumau geboren, 1977 in Wien gestorben. Österreich gab ihm in seinem kulturellen Gedächtnis einen Platz als legendären Part der Doppelconference mit Karl Farkas im Kabarett Simpl (und auch im Fernsehen). Die Dialoge, geschrieben von Hugo Wiener, teilten Farkas die Rolle des Gescheiten, Waldbrunn die des Blöden zu. In der humorvollen Spannung ließen sich gesellschaftliche Entwicklungen spiegeln. Lachen befreit.
Danach ist dem Alter Ego von Waldbrunn auf der Bühne, Karl Anton Winter, nicht immer zumute. Wir schreiben 1965 (Jahr der Uraufführung), Varieté-Stimmung zu Beginn in den Linzer Kammerspielen, wie schön wäre Wien ohne Wiener (Georg Kreisler), singt Winter und verstummt plötzlich, er bricht ab. Im Parterre vermeint er, ein Gesicht ausgenommen zu haben, das er allzu gut kennt, das des damaligen Gauleiters, den er zu unterhalten hatte, zum Lachen zu bringen, dafür, dass er, Winter, nun noch lebt. Die Flucht aus dem Lager Gleiwitz gelingt und zugleich nicht richtig, er sei nicht zum Flüchtling geeignet, sagt Winter vorm Gauleiter, bei dem er das Angebot einlöst, sich an ihn zu wenden, wenn dies nötig ist. In einer Begegnung auf Leben und Tod. Humor sichert neuerlich das Leben und Winter erhält den Fahrausweis nach Wien.
In der Fiktion – also im gelebten, gespielten Alptraum in der Nacht an jener Bühne, in der Winter die Vorstellung des „Gesichts“ (hier auch synonym für die Vision) wegen unterbrechen musste – geht Winter auch in die Situation, dass der nach der Befreiung flüchtige Kriegsverbrecher bei ihm das Versteck sucht. Mitläufer-, Mittätertum, das sich umkehrt?
Die Theaterkritiker der Uraufführung am Theater der Josefstadt sagten dem Stück „Die Flucht“, dem Lida Winiewicz schreibend und dramaturgisch dem daran lange zweifelnden Ernst Waldbrunn Schliff gab, großen Erfolg voraus. Dieser trat nicht ein. Zu viele Bühnen scheuten sich, wohl vor der Herausforderung, die Rolle Winters besetzen zu können. Linz kann das, Linz hat Christian Higer. Christian Higer singt, spielt, imitiert, erzählt, nimmt uns alle ein, hundert Minuten lang, er taucht uns in eine tiefe Emotion, führt uns durch eine Vita, die beispielgebend für so viele Künstlerbiografien steht. Verschiedentlich wurden die Momente der Konfrontation zwischen Kunst und Diktatur auch in Erzählungen gehoben (hier möchte ich etwa auf Roman Polanskis Film „Der Pianist“ mit Adrien Brody in der Hauptrolle verweisen).
Linz hat auch Christian Taubenheim, er spielt den Gauleiter. Die Begegnung der beiden, die Rezitation von Heine, das erdrückt einen als Zuschauer, weil es das muss und weil Bösch auch weiß, hier die rhythmische Struktur der Inszenierung an sich zu brechen, diesen Moment wie in einer Lupe zu vergrößern. Nicht anders könnte man heute den Appell zum „Niemals vergessen!“ szenisch fassen.
Rund um die beiden braucht es noch drei, die in wichtigen Kleinrollen den Rahmen geben: Cecilia Perez in allen Frauenrollen, Lutz Zeidler als Intendant und Julian Sigl, der drei verschiedenen Zeitgenossen für die wenigen Minuten ihrer Begegnung mit Winter feinsinnig Persönlichkeit gibt.
Joachim Werner am Flügel begleitet dann, wenn modernes Wiener Lied gesungen wird. Irgendwann musste der Flügel für den Bühnenbildeffekt des Abends (Bühne: Patrick Bannwart) mit einer Decke geschützt werden. Wenn die Welt zusammenbricht, ist auf wenige Sekunden graues Bildrauschen. Dann klärt sich das Bild, man muss wieder aufstehen. Weitermachen, weiter leben (Ruth Klüger). Widrigkeiten zum Trotz. Trotzdem Ja zum Leben sagen (Viktor Frankl). Waldbrunn-Winter zeigt das exempelhaft vor.
Heftiger Applaus für eine Produktion, die bedingt durch sommerliche Umbauten im Theatergeviert der Linzer Innenstadt bis Ende Mai nur vier Reprisen findet. Die Inszenierung wird im Herbst 2025 aber wiederaufgenommen.
Szenenbild: Christian Taubenheim und Christian Higer in „Die Flucht“ – Foto von Herwig Prammer – mit freundlicher Genehmigung des Landestheaters Linz
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