Sprache

Von der Ambivalenz des Versagens

Das Saallicht sackt in sich zusammen. Er betritt im Dunkeln die Bühne. Mit den angehenden Bühnenspots setzt ein warmer Begrüßungsapplaus ein, für Ferdinand von Schirach.

Heute vor einer Woche gastierte er im großen Saal des Musiktheaters Linz (Oberösterreich). „Regen“ heißt der Theatermonolog, zu diesem strömen Menschen in Massen. Die Tour des Strafverteidigers aus Berlin zählt mit dem Halt in Linz nach der Terminliste seines Webauftritts Vorstellung Nummer 45. Begonnen hatte er im Oktober 2023 in der Philharmonie in Berlin; in Österreich ist Linz die dritte Station, zweimal trat er in Wien, einmal in Klagenfurt auf.

Der Schriftsteller gibt als Schauspieler einen Schriftsteller und darin den Monolog seines Erzählers, gestrandet in einer Bar, draußen regnet es. Drinnen? In ihm arbeitet es. Denn dem Schriftsteller, noch dazu dem Lyriker, der nur einen schmalen Band mit Gedichten in Handpressendruck siebzehn Jahre zuvor veröffentlicht hatte, widerfuhr Schlimmes. Er, der pragmatisch die Sprache so genau verwendet, formulierte seine Frage an den Angeklagten falsch, nämlich vorverurteilend. Darin versagte er als Schöffe, der er nicht werden wollte, die Bürgerpflicht zwang ihn dazu. Nun abgelehnt muss er eine „dienstliche Erklärung“ schreiben, eine Textsorte für die Justiz, fern der Literatur und also der Erfahrungswelt unseres Schriftstellers.

Ferdinand von Schirach arbeitet mit schauspielerischen Mitteln des Laien, keine große Gestik, keine auffällige Intonationsmusik im Sprechen, so also, dass ihm der Mantel des Schauspiels als Autor passt. Sein „Kostüm“ passt weder für den Schöffen noch für den Schriftsteller. Im Smoking mit Kummerbund, weißem Hemd, schwarzer Fliege präsentiert sich Ferdinand von Schirach seinen Fans in jener Eleganz, die er uns auch in seiner (von mir so bewunderten) klaren Erzählsprache gönnt. In der Figur selbst, die er auf die Bühne bringt, finde ich Bruderschaft zu Personal, das gerade wir, sein österreichisches Leserinnen- und Leserpublikum, zu lieben wissen. Die Anklage, die er führt, hat zwar nicht die Opulenz der Sprachmusik jener Referenz und doch ist auch in Schirachs Sätzen Tonalität, Melodie, Wiederkehr kleiner Motive. Woran sich sein Schriftsteller in „Regen“ stößt, beispielsweise an allem der Natur, darin blitzt Thomas Bernhard auf.

Dazu passt freilich auch sein Extemporieren nach wenigen Minuten, stand-up-comedy geradezu, weil die österreichische Sicherheitsdoktrin auf Bühnen (ihm) nicht zulässt, eine Zigarette anzuzünden, und die Reise in den lauten Gedanken dann durch Bühnenhabitate verschiedenster Art führt, in die Schaubühne in Berlin mit Lars Eidinger als Richard III. und auch in den deutschen Bundestag zum knappen „Nö“ von Olaf Scholz.

An „Regen“ in der Buchfassung schließt ein umfassendes Interview an, das Sven Michaelsen für das Magazin der Süddeutschen Zeitung (1. September 2022) mit Ferdinand von Schirach geführt hat und welches den Menschen Ferdinand von Schirach zu fassen sucht, einen unter vielen letzten Mohikanern, die mit umfassender Bildung dem Humanismus und der Aufklärung Stimme geben, das Tosen alles Gesellschaftlichen aber nicht ertragen (er sichert sich in den Verträgen seiner Auftritte ab, nicht der Etikette beispielsweise eines Abendessens danach folgen zu müssen). So spürte man das auch in Linz. Aus dem Publikum überreicht ihm nach Ende eine Dame einen üppigen Blumenstrauß, er legt sich diesen in den Arm. Die Geste, nachdem ihn der Inspizient nochmals, mit den Blumen, in den anhaltenden Applaus geschickt hat, bleibt klein und beruhigt uns: „Aber jetzt“, sagt er in die Stille, „kommen Sie gut nach Hause!“ Dann ging er ab. Wissend, uns beschenkt zu haben.

Foto: Ferdinand von Schirach, von Julia Selmann (offizielles Pressefoto, frei nutzbar, herzlichen Dank dafür; allerdings nur ein Ausschnitt aus Gründen von Formatzwängen fürs Beitragsbild)

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