An Friedrich Dürrenmatts Komödie „Die Physiker“ beweist sich, was wirklich Weltliteratur ist. Zeitlos gültig führt uns das Drama unsere Unbelehrbarkeit vor Augen. Und den Machttrieb, als Geschäftsidee, als Geltungsattitüde. Thema: Verantwortung der Wissenschaft. Denn sobald alles Denkbare gedacht, geschrieben, die Weltformel gefunden ist, braucht die Latenz von Gefahr Schutz. Möbius verbrennt seine Manuskripte, spielt auf verrückt, nimmt teuer bezahlte Einsiedelei im Sanatorium auf sich, um sich und sein Denken der Welt zu entziehen. Natürlich stehen Interessen anderer entgegen. Ebenso als „verrückt“ getarnte Agenten kämpfen um sein Wissen. Sie kalkulieren aber falsch, weil sie die Ansprüche und die Machenschaften der Leiterin des Sanatoriums mit ihren Welt- und Universumslenkungsfantasien zu spät erkennen.
„Wir sind wilde Tiere“, sagt Möbius einmal und das mag den Anlass gegeben haben, den Raum für jene Inszenierung, die nun am Schauspielhaus des Landestheaters Linz (Oberösterreich) mit auch den Weg zeigt, wie Linz den (einst besten) Ruf seines Schauspiels im deutschsprachigen Raum zurückzuerobern beginnt, als einen Garten, einen Dschungel auszulegen. Übrigens, mit einem großartig wunderschön gebauten Ouroboros, einer Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt, Symbol für Ewigkeit, den Kreislauf von Zerstörungswillen. Einmal brüllt auch etwas in diesem Dschungel und alle Figuren gehen eilig in Deckung.
Diese Pointierungen im Spiel gelten als Bühnenhandschrift des Regie-Duos Tom Kühnel und Jürgen Kuttner. Sie legen Tonbandstimmen zu Mundbewegungen ihrer Helden, lassen Dialoge auf andere, sehr gut bekannte Melodien singen und sie verstehen es famos, aus den besten Kräften des Schauspielensembles herauszulocken, was Körper in Gesten und Bewegungen zu kommunizieren verstehen. Wir werden also mit überwältigender Schau-Freude in diesem Schauspiel verwöhnt, im Bühnenbild und auch in den Kostümen von Johanna Pfau, einem Moment der großen stillen „Ah-s“ und „Oh-s“ etwa dann, wenn die gesamte Pflanzenwelt in den Schnürboden zu entschweben beginnt, während Möbius uns an der Bühnenkante ins Mikrofon auf Ständer wie ein Frontman einer Band seinen „Psalm“ rezitiert.
Eine gute Straffung dieser „Physiker“ auf eine Spielzeit von eine Stunde und 45 Minuten bringt drei der ganz Großen aus dem Männerensemble als Physiker in eine Sternstunde ihrer darstellenden Kunst, Christian Taubenheim (Newton), Klaus Müller-Beck (Möbius), Sebastian Hufschmidt (Einstein), was für ein Geschenk! Eva-Maria Aichner wechselt als Oberschwester von der operativ strengen Hand der Irrenärztin zur Frau Missionar Rose, die sich im regionalen (?) Dialekt vom Ex-Mann Möbius in die Mission des Neo-Gatten in den Pazifik verabschiedet. Nataya Sam als Krankenschwester Monika exemplifiziert mit Möbius das notwendige Sterben der Betreuerinnen der falsch-verrückten Weltenretter in einem Flamenco. Gunda Schanderer als Fräulein Doktor von Zahnd (mit einer Bravournummer am Cello!) hält zum Geschehen bestmöglich dicht, wenn Inspektor Richard Voß (endlich wieder auf der Bühne zu sehen: Alexander Hetterle!) sie am Barpiano „improvisierend“ verhört (und eigentlich kommt alles an Musik in der Inszenierung von Joachim Werner als sonst stillem Pfleger des Sanatoriums am Keyboard). Das wirkt gern ein wenig wie bei Nick Knatterton, vielleicht aber auch nur, weil Schnitt und das kräftige Gelb des Kostüms der Frau – pardon, des Fräulein Doktor augenzwinkernd Bezug zur pfiffigen Comic-Serie der fünfziger Jahre nahelegen.
Diese Inszenierung beglückt rundum und darum ist, wer auf Dürrenmatt und seine kräftige Aussage bis zum heutigen Tag und darüber hinaus etwas hält, selber schuld, wenn sie oder er bis zum Ende der Aufführungsserie am 5. Juli 2024 den Vorstellungsbesuch versäumt.
Foto: Petra Moser, mit freundlicher Genehmigung des Landestheaters Linz – von links nach rechts: Sebastian Hufschmidt, Gunda Schanderer, Klaus Müller-Beck, Christian Taubenheim
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