Kunst

Mein 31. Oktober 2023 in Leipzig

Es ist Reformationstag, hier deutlicher ein Feiertag als bei uns in Österreich. Erklärbar aus den Größenverhältnissen der Konfessionszugehörigkeit? Glaubt man Wikipedia, ist (bzw. war Ende 2021) die Mehrheit der Sachsen in Leipzig konfessionslos. Nur 10,7% der Leipziger sind Protestanten, 4,3% Katholiken. Ich gehe den Goerdelerring entlang und sehe, wie die Menschen zum Festgottesdienst in die Evangelisch-Reformatorische Kirche verschwinden. Zwei Stunden später entleert sich eine gut gefüllte Thomaskirche in den stillen Zentrumsalltag rundherum, die Geschäfte halten geschlossen. In Österreich ringt ein 31. Oktober seit Jahren um seine dominante Bedeutung.

Ich nutzte die Herbstferien an Österreichs Schulen für einen kurzen Städtetrip nach Leipzig. Das erste Ziel an meinem 31. Oktober war das Museum zur „runden Ecke“, von 1950 bis 1989 Sitz der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Leipzig. Hinter der schweren Türe (an besagter „runden Ecke“) taucht man in die Finsternis eines Treppenhauses mit wenigen Stufen zum ehemaligen Hochparterre der Behörde. Dass man laut Aufschrift an der Glastür „einzeln eintreten“ muss, erkläre ich mir als Rudiment von pandemischen Präventionshandlungen, nicht als museale Inszenierung von Stasi-Gehabe. Die Dame im Dienst dort wickelt das Eintrittsritual ab. Ich habe, so glaube ich, richtig verstanden: Der Eintritt ist frei, das Buchen eines Audioguides um fünf Euro aber verpflichtend. Mit dem schmalen Apparat in der Hand, in den man Codeziffern von Wänden für Erklärungen tippt und sich das männlich-weibliche Stimmenpaar ins eigene Ohr bittet, betrete ich den Gang. Die Worte am Ohr werden wahr, es blieb alles wie vorgefunden, Farbe und Muster des Linoleumbodens, Wandfarbe sowieso „und manche Besucher behaupten auch, es riecht hier immer noch so wie damals.“

Am 4. Dezember 1989, also gut ein Monat nach dem Mauerfall, besetzte eine Gruppe von 30 Leuten die Stasi-Zentrale friedlich und sicherte damit ein Ende der Vernichtung der Akten, die den ganzen November über intensiv lief. Die dazu eingesetzte „Koller-Maschine“ ist das wohl größte Exponat in jener Zusammenstellung von Inventar an Bespitzelungsutensilien, die das Museum bereithält. Damit zeigt es auf, mit wieviel Energie und Eifer sich der Apparat daran gemacht hatte, Geheimnisse über Bürgerinnen und Bürger zu lüften und sie in der Behörde (natürlich alles noch auf Papier, also Millionen von Karteikarten und kilometerlang Aktenordner) wieder zu einem im Staatsinteresse zu machen. Man versinkt in Absurditäten, „bis 19.5.88 einprägen“ steht handschriftlich über Schreibmaschinenschrift. Es geht um sechs Regeln, „Zeichen der Beobachtung“, Beispiel gefällig? Objekt steht für die zu beobachtende Person: „Objekt setzt sich in Bewegung, es geht weiter, nachkommen = mit der Hand über Haar streichen, Hut kurz lüften“. Was nach Spiel klingt, meinten die bitterernst. Für Observationen griff man auch gerne zur Verkleidung. Die Stimmen im Audioguide berichten von den besonders beliebten Rollen „Bauarbeiter“ (der konnte unauffällig an einem Gebäude herumstehen) bzw. „Fotograf“ (leichter ließen sich Beweisfotos nie knipsen; auch wenn man interessante Konstruktionen von in Jackentaschen verbauten Kameras im Museum besichtigen kann).

Im Museum stehen nun auch die „Geruchskonserven“ in der Vitrine, jene Rexgläser, in denen Staubtücher mit gespeicherten Körpergerüchen von vorgeladenen Bürgerinnen und Bürger (die man zur Erfassung des Geruchs auf präparierten Stühlen lange sitzend warten ließ) verwahrt worden sind, sodass der „Differenzierhund“ im Fall des Falles mit Hilfe seines feinen Riechorgans „böse Bürger“ überführen konnte.

Ist so ein Museum „Ost-algie“? In den frühen (wiedervereinigten) neunziger Jahren wurde in Fernsehunterhaltungsshows die DDR als halt etwas sonderbarer Staat, aber durchaus lebenswertes System inszeniert, darin die Diktatur verharmlost. Eiskunstläuferin Katharina Witt trat in so einer Show im Blauhemd der SED-Jugend auf, Fernsehkommentaren ätzten darüber heftig, nachlesbar ist dies in Zeitungsausschnitten, die ebenso in der „runden Ecke“ präsentiert werden.

Sich der eigenen Geschichte zu stellen, ist und bleibt eine wichtige Tugend. Tags darauf, kurzer Exkurs weg vom 31. Oktober, fahre ich mit der Straßenbahn, auf dem Infoscreen darin die „Quizfrage“, wo das größte DDR-Gefängnis für Frauen gestanden habe, drei Antwortmöglichkeiten, ich wusste die richtige zu wählen. Hoheneck, 24000 Gefangene! Volksbildung im öffentlichen Verkehrsmittel, das gefällt mir gut. Genauso das gerade laufende Projekt im Museum der bildenden Künste Leipzig: In den oberen Etagen unterfängt man die Neuhängung von Bildern des 20. Jahrhunderts, insbesondere auch des Sammelbestands aus DDR-Zeiten. Dieser hat Bescheidenheit, die Ankaufspolitik war ideologisch gesteuert, am meisten profitierte ein Künstler aus Chile (!). Einheimische Kunstschaffende mussten Einflüsse bestimmter Kunstströmungen Europas aussparen, etwa des Expressionismus, der Staat duldete diesen nicht. Schön finde ich, dass das Museum nun die Partizipation der Bevölkerung sucht, um die Gestaltung der Neuhängung ihrer Bestände so auszuführen, dass die Kunstwerke unter sich und mit dem Publikum (der Nachgeborenengeneration) interessant korrespondieren können. Ich sehe darin einen beispielgebenden Zugang für Vergangenheitsbewältigung.

Ebenso im dritten, den ich an diesem 31. Oktober kennenlernen durfte: Abends besuchte ich am Schauspielhaus eine Aufführung der Produktion „Letzte Station Torgau – Eine kalte Umarmung“. Regine Dura und Hans-Werner Kroesinger sind Spezialisten des dokumentarischen Theaters und sammelten Erfahrungsberichte von damals Jugendlichen, die in den Jugendwerkhöfen der DDR gelandet waren, mehr Gefängnisse als Erziehungsheime, boot camps würde man heute vielleicht sagen, mit pädagogisch verqueren Ansichten eines Direktors, der in den zitierten Anweisungen – eingebaut in den packenden Theaterabend – immer mit Namen, Funktion und Ausbildungsgrad – „Diplompädagoge“ – unterschrieben hatte. Hier düpiert die Qualifikation durch den Titel das eigene Handeln, etwa als er eine Revolte von zwanzig Jugendlichen in der Gemeinschaftsdusche mit der Erpressung aufzulösen wusste, den ersten zehn, die den Raum verlassen, sei Straffreiheit in Aussicht gestellt. Eine schlechte Aussicht, die Bestrafung (mehrtägiger Einzelarrest) ereilte alle.

In der Spielstätte „Diskothek“, ausverkauft, verfolgte das Publikum fokussiert Zeitgeschichtsforschung im Bühnenformat. Die Last des erarbeiteten Materials, in zwei pausenlosen Stunden verdichtet von drei Frauen und drei Männern auf einen Terrassenholzrost mit einer Schaukelwippe und einigen wenigen Versatzstücken gestellt, ließ niemanden das Theaterangebot eines Nachgesprächs annehmen. Man musste mit all dem Gehörten hinaus, um selbst damit klarzukommen. Die frische Luft einer doch noch lauen letzten Oktobernacht 2023 half.

Foto: Installation „AUSWILDERN“ (1990/1991) von Sighard Gille im Museum der bildenden Künste Leipzig – Sinnbild eines Findens vom Wir (im Staat der DDR) zum Ich (der Individualisierung in Freiheit)

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