Saal bezieht sich auf alles, wo sich Publikum sammelt, ob unter festem Dach oder freiem Himmel. Er steht, das ist synonym für Standing Ovations. Der Einsatz dieses höchsten körpersprachlichen Guts eines Publikums zur Anerkennung einer Darbietung ist, so lautet meine These in Folge besuchter Theaterpremieren in den vergangenen zwei Jahren, wirklich sehr niederschwellig geworden.
Seit der Pandemie, so meine ich, dieser viel zu langen Zeit bitterer Entbehrung des Geheimnisses künstlerischen Geschehens im Augenblick, durch den schweren Verlust der Magie des gemeinsamen Moments auf und vor Bühnen fiel das mit den Standing Ovations aus dem Lot. Wir verloren die Linie, über die eine Darbietung von ihrer künstlerischen Intensität gehen musste. Wir verloren sowohl intuitiv als auch aus fachlichem Wissen (nein, niemals aus Gründen von Vorbildung, sondern) gelernt über Erfahrungen in vielen Rezeptionen und somit eingeordnet in die jeweils eigene Schule des Einschätzungsvermögens, wann wir aufstehen müssen und aufgerichtet unserem Applaus jenen ultimativen Nachdruck geben.
Jetzt aber steht ein Saal nahezu immer, routinemäßig. Plötzlich gehört es zum Erlebnis an sich dazu, das man sich mit seiner Eintrittskarte gekauft hat. Soziologe Gerhard Schulze („Die Erlebnisgesellschaft“) hätte seine wahre Freude damit, schrieb er doch schon vor 31 Jahren vom Erlebnisangebot und seiner Nachfrage, dem Markt, der in der Erfüllung des eingesetzten Gelds nun wohl auch jene Inszenierung durchnimmt, das, was auch immer dargeboten, gesehen und/oder gehört wurde, im Ultimum des Möglichen abzufeiern; „steht auf, wenn ihr …“, so wie im Fußballstadion nach einem Fan-Chor zur Melodie von „Go West“ der Pet Shop Boys.
Gerne wollen manche zwar dann den Platz behalten. Mit diesen manchen sind jene in Premieren gemeint, die sich aus unterschiedlichen Professionen kritisch distanziert zu verhalten haben und wissen, weil sie etwa aus der Branche kommen, sich darin immer selbst den Auftrag zur Weiterentwicklung stellen, oder weil sie gegenüber einem weiteren Massenpublikum als Rezipierende ihrer Verantwortung durch Berichterstattung nachkommen. Unlängst sah ich nach einer Premiere von schräg hinten einem aus der Gruppe der Erstbeschriebenen, da er sich in der Reihe vor mir kurz umdrehte, ins lange Gesicht seiner Enttäuschung. Mutig stemmte er sich gegen das, was so eine Welle an Standing Ovations auslöst, diesmal mit Erfolg, ich selbst auch mit. Wir waren und wir blieben im Widerstand, also sitzen. Das gelingt aber nicht immer. Der Gruppendruck zum Massenphänomen zieht einen oft unwillig vom Sessel, „jetzt müssen wir mit“, raunt mir dann gern, egal wer mich begleitet, meine Herzallerliebste oder meine Tochter zu. Der geringste Auslöser ist vielleicht nur der, weil man doch noch den einen oder anderen Blick auf jene werfen möchte, die nun frenetisch bejubelt werden. Oft aber will man sich die verstohlenen Blicke, die wie Nadeln stechen können, jener, die sich schon erhoben haben, ersparen, Rechtfertigungen vielleicht sogar. Dann stehen auch wir im Saal; gut ist uns nicht dabei, weil es nicht gebührt, also nicht ehrlich ist.
Da das postpandemische Phänomen kaum selbst Auflösungserscheinungen zeigen wird, mahne ich mich und uns (die zwei Gruppen wie oben beschrieben als Pioniere) zu mehr Courage und Sitzenbleiben, dann, wenn es geboten ist und bleiben muss. Nur so könnte eine (neue) kritische Masse wachsen – und mit ihr die Chance auf eine Art überfällige Kalibrierung von Standing Ovations.
Foto: Pexels/Free Photo Library
Kategorien:Theater

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