Vor einem Jahr traute ich meinen Augen kaum. Ich las, die maturierenden Schülerinnen und Schüler mögen sich auf einer Website (in hoffentlich richtiger Erinnerung) der Diözese Wien (!) digital um Unterstützung von oben bemühen. Es ging um einen Segen, modern neudeutsch „be blessed“ – und zwar für das Bestehen der schriftlichen Reifeprüfung im Prüfungsgebiet Mathematik.
Ob die künstlich intelligente spirituelle Kraft geholfen hat, weiß ich nicht. Ich will es auch gar nicht wissen. Ich halte abschließende Prüfungen für etwas absolut Irdisches und ihre Bewältigung braucht Bodenständigkeit, einen rational basierten Weg, der sich – das will ich schon glauben – in den vergangenen Jahren verändert hat. Darum schreibe ich heute, wie es zum Mythos des Angstfachs Mathematik gekommen sein muss. Meine Perspektive ist die eines Lehrers und Schulleiters im berufsbildenden höheren Schulwesen Österreichs.
Im Schuljahr 2015/2016 wechselte dieses Schulsystem in die sogenannte „Zentralmatura“, also Aufgabenstellungen durch das Bildungsministerium (dazumals noch durch eine Vorfeldorganisation), ganz zentral schon damals nicht, sondern nach Schultyp und den jeweiligen Mathematiklehrplänen differenziert. Die Mythenbildung erhielt zwei Schuljahre später reiche Nahrung. Im Haupttermin (Frühjahr, also Mai) 2018 beinhaltete die Aufgabensammlung Rätselnüsse, unknackbar selbst für die begabtesten oder in ihrer Lernvorbereitung fleißigsten Schülerinnen (hier weiblich allein, da das humanberufliche Schulsystem, in dem ich arbeite, dominant von jungen Frauen besucht wird). Nie werde ich die langen Gesichter all jener Absolventinnen vergessen, die im Juni 2018 bei der feierlichen Überreichung ihrer Reifeprüfungszeugnisse den Frust spiegelten. Glänzende Leistungen sonst, im Prüfungsgebiet Mathematik erretteten sie sich zumeist ein „Genügend“, welches im gesamten Leistungsbild verhinderte, dass Belobigungen wie „guter Erfolg“ oder „ausgezeichneter Erfolg“ möglich geworden wären.
Das Ministerium reagierte und sandte eine Kommission durch die Bundesländer. Was war geschehen? Rückblickend würde ich meinen, dass die Entwicklung der Aufgaben (sie werden von Mathematiklehrkräften geschrieben) den Eifer der Expertinnen und Experten unter sich überspitzen ließ. Die Konstruktion der Aufgaben (trotz Testungen im Feld) entfernte sich in Höhen von Wissenschaftlichkeit, losgelöst von dem, was Matura sein soll und kann: punktuelle Abtestung einer Reife im Umgang mit den unterschiedlichen Anwendungsgebieten von Mathematik in einem Alter von 18 oder 19 Lebensjahren.
Was trotz Regulierungen in Folge des Kommissionsberichts blieb, liegt auf der emotionalen Ebene und bekam Auffrischung durch geiferndes Medieninteresse, dort Beschwörungen, wie schrecklich das Fach denn sei, nicht bewältigbar, leider auch unterstützt aus dem Bildungsministerium, das dem Drängen der journalistischen Informationsgier nachgab, wenn es nach durchgeführtem Prüfungstermin um raschest verfügbare Ergebnisse ging. Da mussten Kolleginnen und Kollegen des Fachs Mathematik wenige Tage lang rund um die Uhr korrigieren, nur weil es einen Termin gab, zu dem schon ans Ministerium zu berichten war, wie denn die Ergebnisse aussehen könnten (hier Konjunktiv, rechtsgültige Beurteilungen entstehen durch Konferenzbeschlüsse). Der Minister trat dann vor ein Mikrofon und lieferte Zahlenmaterial. Das alles schüttete Öl ins Feuer der Erregung über einen Prüfungsgegenstand, gar nicht gut.
Natürlich spielen andere Faktoren in die Mythenbildung des Angstfachs hinein. Ein erster: Die Aufgaben sind nicht die Rechnungen selbst, sondern Texte zu Situationen, aus denen dementsprechende Rechenansätze je nach Teildisziplin abgeleitet werden wollen. Das braucht Textverständnis. Ob die Formulierungen da immer jugendlichengerecht (mit Fachausdruck sagen wir dazu: sprachsensibel) sind, trotz Testung in der Zielgruppe? Diese Verunsicherung („Ich kapiere nicht, was die in dem Text da meinen!“, sinngemäßer O-Ton aus Schülermund) schürt Angst. Angst ist eine Emotion, sie wirkt blockierend. Ganz genau werden ihre Gründe nie zu fassen sein, sie werden bei Schülerin A oder Schüler B auch unterschiedlich liegen. Sie aufzulösen ist deswegen schwierig.
Ich beobachte allerdings auch Verwerfungen, die aus Veränderungen im Rezeptionsverhalten der Jugendlichen resultieren. Wir erleben rapide Verkürzungen von Konzentrationsphasen, dies ist unter anderem dem lebensbegleitenden Kleincomputer in Hosen- und anderen Taschen geschuldet, der Bilder- und Kurzfilmewelt dort. In einem Training zu mehr Konzentrationsfähigkeit sehe ich ebenso Chancen, dem gewachsenen Mythos Angstfach Wasser abzugraben. Da lassen sich (vielleicht) auch Tugenden zurückgewinnen, die darin liegen, dass Mathematik Vorbereitung braucht, also Zeit, Auseinandersetzung, Denken.
Nostalgisch schreibt hier einer, der seine Mathematikmatura vor vierzig Jahren absolviert hat, Note „Gut“ übrigens, ich begriff diese Matura wie Sport, wie einen Wettkampf, dessen Vorbereitung Training (Übung) brauchte, nicht nur Wochen, Monate konsequenter regelmäßiger Auseinandersetzung mit der mathematischen Materie. Ich entdeckte meine Leidenschaft fürs Differenzieren, Integrieren, Trigonometrie war deklariertes Lieblingsgebiet, mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung stand ich auf Kriegsfuß. Ich glaube fest daran, dass Kampfgeist eine Ansage gegen Angst ist. (Dazumals freilich blieb der unabgelenkt vom Smartphone. Ich und mein exzellentes Mathematiklehrerinnen-Team beraten heute alle mit den neurobiologischen Erkenntnissen, dass nach Lernphasen ein unmittelbarer Blick in einen leuchtenden Monitor alles zuvor Erarbeitete löscht!)
Am nächsten Donnerstag darf ich wiederum eine Mathematik-Matura an meinem Schulstandort durchführen. Ich sage die Prüfung stets als „Königin“ der Reifeprüfung an und stimuliere mit weiteren Motivationsansagen den Mut, es gelingen zu lassen. Die Entspannung im Prüfungsraum, da und dort auch ein befreiendes Lachen sind nicht die Mittel der Stunde, wenn man nicht gelernt hat. Wenn man sich aber vorbereitet hat, dann ist das Lachen die Lockerungsübung fürs Gehirn, bevor es sich 270 Minuten auf die Faszination von Mathematik fokussiert.
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