Literatur

Die frühe Sozialisation

Es ist ja schwierig, irgendein wirklich passendes Wort dafür zu finden, was das Auszählchaos rund um die Vorsitzendenwahl beim Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) in Linz (Oberösterreich) vor drei Wochen treffend beschreibt: sagen wir einfach einmal, Blamage.

In den Tagen danach protestierten treue Genossinnen und Genossen in verschiedensten social-media-Kanälen über die Ungleichheit in der Behandlung im Vergleich zu dem, was andere Parteien „anstellen“, sie gaben dazu Stichwörter wie Korruptionsaffären (ÖVP) oder Ibiza (FPÖ); da hätte sich die geneigte Öffentlichkeit weitaus kürzer und in weniger Intensität in Spott und Häme geübt.

Ich glaube zu wissen, worin der Grund liegt, von allgemeiner Betroffenheit, dem ungläubigen Staunen über das, was in Linz mit etwas über 600 abgegebenen Stimmen passiert ist, und zugleich Verzweifeln am Geschehenen. Es liegt im Gefühl des Verlusts von Vertrauen zu einer einst über lange Zeit stabilen Kraft im Land in und mit Regierungsverantwortung, die von Anfang 1970 (Bruno Kreisky) an bis 2000, also dreißig Jahre lang Frauen und Männer nahezu aller Geburtskohorten geprägt hat.

Auch ich wurde so sozialisiert, führe hier aber an, dass dies absolut nichts über mein Wahlverhalten als logischen Schluss nach sich ziehen würde. Ich bin und bleibe parteilos. Ich wähle in kritischer Reflexion von Programmen und Plänen, und das wechselnd im Spektrum der wahren demokratischen Kräfte. Die Politikwissenschaft beforscht ja schon länger, dass Parteitreue zur schwindenden Größe bei jedem Wahlgang geworden ist.

Vor Jahren habe ich, Anlass war ein Essaywettbewerb zum Jubiläum der Zweiten Republik, über frühe Begegnung und Sozialisation räsoniert. Ich nehme an, dass sich viele meiner Generation an ganz ähnliche frühe Erlebnisse erinnern können. (Vielleicht schmerzt darum der demokratiepolitische Fauxpas vom 3. Juni 2023 so sehr, auch tief.) Den betreffenden Auszug aus dem längeren Text mit Titel „Meine zweite Hälfte der Zweiten Republik“ rücke ich heute hier ein:

„Meine ganz eigene, durch nichts verbrämte Geschichte mit meiner Zweiten Republik beginnt (…) irgendwann in den ganz jungen siebziger Jahren. Ich war ein Kindergartenkind, in Linz. Wir wohnten in einem Hochhaus an der Makartstraße mit Blick auf den Bulgariplatz. Zwei Häuserblöcke weiter hinter einem Spielplatz lag der Kindergarten. Ich startete mit sozialistischer Sozialisation, ein Kindergarten der „Kinderfreunde“. Ich ging ganz gerne dort hin. Als Jause hatte ich stets eine kleine Rolle Schokokekse im Umhängetäschchen dabei. In transparentem, blau bedruckten Papier verpackt. Die liebte ich über alles. Meine Mutter hatte damit die Gewissheit, dass der Sohn, sonst wegen seiner Angina-geschädigten Mandeln kaum zum Essen zu animieren, wenigstens so die Energiespeicher für seine kindliche Umtriebigkeit auflud. Gehasst habe ich jeden Tag, an dem das kindergarteneigene Schwimmbecken zu nutzen war. Wasserscheu, wie ich war, hielt ich mit der Tanten-Anordnung, am morgigen Tag eine Badehose mitzubringen, zu Hause geschickt hinter dem Berg. Die Strategie ging schlecht aus, ich musste mit der Turnhose ins kalte Wasser. Eines Tages allerdings rückten wir Kindergartenkinder mit Kleinbussen aus. Zwar nicht weit, die Wienerstraße in Richtung Stadtzentrum, im Geschwindigkeitsduell des Busses mit der mächtigen Straßenbahn, was uns dreikäsehohe Autonarren ungeheuer faszinierte. Insofern waren wir sehr traurig, dass die Ausflugsfahrt doch sehr bald schon ihr Ziel erreicht hatte. Mit ihren fürsorgenden Armen steuerten uns unsere Tanten am Hauptbahnhof bei den Löwen vorbei über die breite Außentreppe in die Abfahrtshalle. Ein riesiger Aufmarsch fand da statt. Eine Musikkapelle hatte Position bezogen. Menschen in Erwartungshaltung umrahmten eine quadratische Freifläche. Uns Kindern drückte man kleine Blumensträuße in die Hände. Auch wir bekamen unseren Warteplatz zugewiesen. Für eine bestimmte Weile. Dann erklang ein Tusch. Donnernder Applaus. Irgendwas musste geschehen sein. Wir hatten keine Ahnung. Dann sangen wir ein Lied. Eine Tante hielt ihren Kopf zwischen ein Mädchen und mich, so wie wir nebeneinanderstanden. Wir sollten auf ein Paar zugehen und die Blümchen überreichen. Sie dem Herrn, ich der Dame. Brave Kinder tun, was ihnen geheißen. So stiefelten wir los und überreichten die Sträuße. Der Herr streichelte meiner Kollegin über den Kopf. Die Dame beugte sich zu mir auf Augenhöhe. Natürlich wussten wir Knöpfe nicht, dass uns hier Bundeskanzler Bruno Kreisky und Gattin gegenüberstanden. Natürlich hatte der vielleicht vierjährige wasserscheue Kindergartenknirps nicht den geringsten Tau, dass sein kleines Leben gerade österreichische Politikgeschichte berührte.“

Aus: Meine zweite Hälfte der Zweiten Republik. Notizen aus einem ganz persönlichen Geschichte-Tagebuch, erschienen in: Gebrauchsanweisungen für freie Köpfe, Linz 2006, S. 35-36.

Foto: Am Hauptbahnhof Linz, um die Zeit der oben beschriebenen Begegnung, das Foto datiert vom 16. Juni 1971 und zeigt die Haltestelle des damals B-Wagen, später der Linie 3 der vormals ESG, heute Linz AG Linien. Rechts an der Uhr vorbei ging es über die Außentreppe, flankiert von den beiden Löwenskulpturen (die ein beliebter Abholtreffpunkt waren) in die Abfahrtshalle. Die Getränkewerbung ist #notspons. Foto by Kurt Rasmussen, mit verbindlichem Dank, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Linz-esg-sl-b-hauptbahnhof-573967.jpg, abgerufen am 9.6.2023.

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