Eine Viertelstunde vor Ordinationsbeginn bei einem Facharzt, welcher ist egal, wo ebenso, sammeln sich vor der noch verschlossenen Tür Menschen, Wartende. Sie alle haben das gleiche Ziel. Sie wollen zum Arzt, brauchen Behandlung. Usus bei diesem Facharzt ist, dass sich die Patientin bzw. der Patient zuvor um einen Termin kümmert. Schon diese eigentlich unerhebliche Pflicht erweist sich als nicht durchsetzbar. Gleich erleben wir das. Denn ich bin einer unter den Wartenden, ich habe einen Termin.
Pünktlich zum Zeitpunkt des beginnenden Ordinationsbetriebs sagt die Ordinationsassistentin nach dem Aufsperren der Tür zur Praxis laut und deutlich an: „Die mit den Terminen zuerst!“
Rund fünfzehn Menschen schieben sich in Folge zu einer Warteschlange zur Anmeldung vor: Der erste in der Reihe ist nicht nur unangemeldet hier, er war bisher noch nicht einmal Patient der Ordination, für die ein Aufnahmestopp gilt. Die nächsten in der Reihe: allesamt ohne Termin. In etwa zwei Drittel stehen terminlos auf den vorderen Positionen der Warteschlange, taub gegenüber der klaren Ansage bei Einlass und – nein, wir sind nicht bei einem Hals-Nasen-Ohren-Facharzt. Nun hören sie von hinter der Plexiglasscheibe der Anmeldung höflichen Zorn auf geknirschten Backenzähnen und die Ansage einer Aussicht auf lange Wartezeiten, drei Stunden Minimum.
Es dauert gut zwanzig Minuten, bis der erste Patient mit Termin einchecken kann und unmittelbar in den Behandlungsraum weitergeschoben wird. Der Facharzt musste unfreiwillig zwanzig Minuten kostbare Ordinationszeit verstreichen lassen, bevor er mit seiner Arbeit beginnen konnte.
Sinnfälligkeit und Symbolkraft dieser Alltagsepisode könnten kaum deutlicher ausfallen. Und wir wollen mit der Menschheit in diesem Zustand eine Pandemie, Energieknappheit im kommenden Herbst und Winter und – lang angesagte Königsdisziplin der Menschheit – den Klimawandel bewältigen?
Das können wir vergessen. Mit dem Recht der Stärkeren, den steten Versuchen, dieses geltend zu machen, dem Ausscheren oder Ausweichen vor selbst den unaufwändigsten Regeln der Organisation, damit dem Schaffen von Blockaden, dem Verschwenden von Zeit und Ressourcen: kurzum, mit der Ignoranz von mehr als der Hälfte werden sich Handlungen zur Veränderung, so simpel die auch angeleitet sein mögen, niemals in Wirklichkeit umsetzen lassen.
Wenn nun die Europäische Union ihre Mitgliedsstaaten dazu aufruft, 15 Prozent des Verbrauchs von Gas bis ins Frühjahr 2023 (Ankündigung vom 20. Juli 2022) einzusparen, wird dies eine Minderheit industrieller wie privater Konsumenten praktizieren, während sich die anderen im Gefühl, nicht angesprochen zu sein, also künstlich taub bedienen wie eh und je. Sogar einzelne Mitgliedsstaaten versuchen in diesen Tagen ja, dem Spargebot zu entkommen.
Der österreichische Wirtschaftsminister Martin Kocher erteilte darum jenem Versorgungsmodell mit Strom und Gas eine Abfuhr, wonach der jahresdurchschnittliche Verbrauch zu den vorinflationären Preisen abgegeben werden soll und nur Mehrverbrauch den aktuellen Marktpreisen entsprechend zu bezahlen sein soll. Mit dieser Regelung, so der Experte (der er ist) im Bundesminister-Amt, würde hemmungslos Energie konsumiert werden, die nicht verfügbar ist.
Die Bewältigung der Herausforderungen, altbekannter wie der Pandemie, neuer wie der Energieknappheit bzw. ihren hohen Preisen, ist nicht eine Frage von Projektmanagement produzierender oder dienstleistender Wirtschaft, sondern eine, wie man die Psychologie der eben beschriebenen Masse lenkt oder ausnutzt. Diesbezügliche Expertinnen und Experten vermissen wir an den Beratungstischen. Vielleicht sitzen sie ja auch schon dort und sind nur nicht sichtbar. Wir brauchen jene, die wissen, wie die anweisungsresistente Mehrheit tickt und wie man diese Resistenz austricksen kann. Nur so wird es dann gehen.
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Kategorien:Klima, Soziales Handeln